Rebellinnen mit einer Mission

Mit ihrer Kampagne „United Against Gender Apartheid“ will die im Exil lebende iranische Frauenrechtlerin Masih Alinejad die systematische Unterdrückung von Frauen weltweit beenden. Im Gespräch mit Nasim Azadi* erklärt sie, warum der Hijab mehr als ein Stück Stoff ist und Diktatoren effektiver zusammenarbeiten als Demokraten.

Frau Alinejad, Sie haben kürzlich die Kampagne „United Against Gender Apartheid“ gegründet. Was hat Sie zu dieser Initiative bewogen?

Wir werden täglich mit tragischen Nachrichten und Geschichten bombardiert. Lassen Sie mich von Arezou Badri erzählen. Die iranische Polizei schoss auf sie, weil sie den im Iran obligatorischen Hijab nicht getragen hat. Jetzt liegt sie gelähmt im Krankenhaus. Nach dem Tod von Mahsa Amini gab es zahlreiche Reaktionen. Doch inzwischen scheinen die Menschen erschöpft zu sein. Es ist, als seien sie es leid, immer wieder zu hören: Sei die Stimme dieser Frauen. Ich möchte die Aufmerksamkeit zurückgewinnen. Ich fordere alle Frauen dazu auf, Videos zu drehen und ihre Geschichte zu erzählen. Nicht ich leite die Kampagne, sondern jede einzelne von ihnen leitet sie mit. Ich wollte eine Initiative ins Leben rufen, die alle Rebellen mit einer gemeinsamen Mission vereint.

Wer sind diese Rebellen, die mit uns ihre Geschichten teilen?

Die Hauptakteure, die Gender Apartheid freilegen, sind einfache Frauen. Es sind Frauen, die ihr Auge oder ihre Arme verloren haben, als sie bei der „Frau, Leben, Freiheit“-Revolution im Iran auf der Straße protestiert haben. Oder auch Frauen in Afghanistan, die für das Verbrechen, eine Ausbildung zu fordern, im Gefängnis von den Taliban vergewaltigt werden. Frauen aus Afrika! Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich ihre Videos sehe. Das ist großartig, dass sie sich uns angeschlossen haben. Die Schwesternschaft ist wunderschön.

Warum der Fokus auf Frauen? Leiden nicht auch Männer unter repressiven Regimen wie der Islamischen Republik? Immerhin sind etwa deutlich mehr Männer von Hinrichtungen betroffen als Frauen.

Frauen sind immer das erste Ziel autoritärer Regime und insbesondere der islamischen Ideologie. Warum? Wir, die Frauen, sind die einzige Gruppe, die gezwungen ist, die Ideologie der Taliban und der Islamischen Republik Tag für Tag an unseren Körpern zu tragen. So erkennen Sie sofort: Das ist ein islamisches Land, ein Land des Islamismus. Der Hijab ist nicht nur ein kleines Stück Stoff. In den Händen der Taliban und der Islamischen Republik ist der Hijab die Hauptstütze eines Gender Apartheid-Regimes. Es erlaubt ihnen, aus Frauen eine Armee zu machen, ihre Körper als Plattform zu missbrauchen, um die islamische Ideologie zu verbreiten. Deshalb sind Frauenkörper für sie von großer Bedeutung.

Was ist das Ziel der Kampagne?

Gender Apartheid wird nach internationalem Recht nicht als Verbrechen anerkannt. Bei meinen Treffen mit Parlamentsführern, besonders in Europa, wurde mir immer wieder gesagt, dass wir das, was im Iran und in Afghanistan passiert, nicht als Gender Apartheid bezeichnen können. Warum? Weil der Begriff ‘Apartheid‘ eine historische Last trägt. Die Afrikaner könnten sich beleidigt fühlen. Daher habe ich sofort die Videos, in denen die Frauen Afrikas sagen, dass sie unseren Schmerz verstehen und sich unserem Kampf anschließen, an das Europäische Parlament und andere Stellen weitergeleitet. Die Einheit von Frauen, die unter Apartheid-Regimen leben, kann eine Lektion für die globale feministische Bewegung im Westen sein.

Masih Alinejad trifft sich mit Politiker:innen in unterschiedlichen Ländern - Foto: Mit Frankreichs Präsident Emanuel Macron / www.khabaronline.ir
Masih Alinejad trifft sich mit Politiker:innen in unterschiedlichen Ländern, um auf die Lage der Menschenrechte im Iran aufmerksam zu machen – Foto: Mit Frankreichs Präsident Emanuel Macron / www.khabaronline.ir

Welche konkreten Maßnahmen sollten ergriffen werden, um Gender Apartheid zu beenden? Wie sollten Regime, die systematisch die Rechte von Frauen verletzen, zur Rechenschaft gezogen werden?

Das ist eine sehr gute Frage. Unser juristisches Team arbeitet zusammen mit Anwälten daran, Gender Apartheid unter internationales Recht zu stellen. Apartheid wird bereits als Verbrechen anerkannt. Alles, was wir brauchen, ist, die Definition von ‘Apartheid‘ zu erweitern, sodass sie ebenfalls ‘Gender‘ enthält. Das wird uns die Aufgabe erleichtern, die Taliban und die Islamische Republik vor einem internationalen Gericht zur Rechenschaft zu ziehen.

Allerdings hat doch etwa der vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzte internationale Untersuchungsausschuss viele der von der Islamischen Republik Iran begangenen Menschenrechtsverstöße als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft – offenbar ohne weitere Konsequenzen.

Das nennt man erstens Heuchelei: Die Mitgliedsstaaten denken, wenn sie Maßnahmen zu Papier bringen, sind sie fertig. Und dann setzen sie nicht einmal ihre eigenen Entscheidungen um. Zweitens glaube ich, dass es sich um Korruption bei den Vereinten Nationen handelt. Die Vereinten Nationen haben sich leider zu einer Plattform entwickelt, die Diktatoren vereint. Diese nutzen sie, um sich gegenseitig zu unterstützen und stärker zu werden. Zwischen Demokratien herrscht nicht so viel Einigkeit. Verfolgen Demokratien beispielsweise eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen den Terrorismus? Nein. Die US-Regierung stufte die iranischen Revolutionsgarden als terroristische Organisation ein, aber die übrigen G7-Staaten zögerten, dies zu tun, einschließlich Deutschland. Demokratien folgen sich nicht gegenseitig, sie sind verloren in ihrem Kampf zwischen links und rechts. Und das ist ein Problem. Wenn die Islamische Republik und die Taliban westliche Bürger, Amerikaner oder auch Deutsche, töten wollen, dann kümmern sie sich nicht darum, ob sie links oder rechts sind. Sie hassen den Westen. Sie hassen die Demokratie und sie hassen westliche Werte. Sie hassen Feminismus.

Viele kritisieren die westliche Appeasement-Politik und fordern vor allem in der Iran-Politik einen Kurswechsel. Woher kommt dieses Zögern westlicher Staaten Ihrer Ansicht nach?

Sie versuchen, politisch korrekt zu sein. Sie glauben, eine entschlossene Haltung gegenüber autoritären islamischen Staaten könnte zu Islamophobie führen. Gleichzeitig spielen sie die Allianz autoritärer Regime herunter. Fast zwei Jahrzehnte lang mit der Islamischen Republik zu verhandeln, hat die westlichen Demokratien nicht weitergebracht. Sie haben nur die nuklearen Aktivitäten der Islamischen Republik gefördert oder Milliarden von Dollars im Tausch gegen Bürger mit doppelter Staatsbürgerschaft ausgegeben. Das ist wirklich gefährlich, denn so ermächtigt man sie nur dazu, noch mehr westliche Bürger zu verfolgen, weil man ihr gezeigt hat, dass ihre Geisel-Diplomatie funktioniert. Was wir brauchen, ist eine Versammlung für Dissidenten, für die Aktivisten und Freiheitskämpfer aller autoritärer Regime, um den Führern der Demokratien klarzumachen, dass es an der Zeit ist, sich zu vereinen, um die Zunahme des Autoritarismus auf der ganzen Welt zu beenden.

(Oben v. li.) Reza Pahlavai, Shirin Ebadi, Masih Alinejad, Hamed Esmaeilioun, (u. v. li.) Nazanin Boniadi, Ali Mohtadi, Golshifteh Farahani, Ali Karimi
Masih Alinejad war eine der Initiatoren einer achtköpfigen, erfolglosen Vereinigung unterschiedlicher Oppositionellen, um eine Alternative zur Islamischen Republik anzubieten – (Oben v. li.) Reza Pahlavai, Shirin Ebadi, Masih Alinejad, Hamed Esmaeilioun, (u. v. li.) Nazanin Boniadi, Ali Mohtadi, Golshifteh Farahani, Ali Karimi

Sie selbst sind zur Zielscheibe der Islamischen Republik geworden. Vor zwei Jahren konnte ein vom Iran ausgehendes Attentat auf Sie verhindert werden. Wer sich gegen die Islamische Republik auflehnt, kann sein Leben verlieren.

Die drei Männer, die angeheuert wurden, um mich zu töten, gehörten zu einer osteuropäischen Verbrecherbande. Also helfen sich auch hier Diktatoren gegenseitig, um Andersdenkende jenseits ihrer eigenen Grenzen loszuwerden. Doch ich habe keine Angst um mein Leben. Was mir Angst macht, ist, dass dies unter den Augen der freien Welt geschieht. Es ist eine Bedrohung für die Demokratie, und deshalb macht es mich wütend. Ansonsten bin ich froh, dass ich ihnen das Leben so schwer gemacht habe, dass sie mich loswerden wollen. Ich wiege nur 45 Kilo, aber sie haben Angst vor mir. Ich bin ihr Albtraum, wie Millionen andere Frauen.

Der Widerstand kommt jedoch nicht nur aus der Islamischen Republik. Auch Teile der Opposition haben Kritik geäußert…

Diktatoren sind sehr gut darin, ihre Opposition zu spalten. Das gilt nicht nur für den Iran. Es gilt auch für venezolanische, russische oder bolivianische Dissidenten. In meiner Organisation „World Liberty Congress“, einem Zusammenschluss von Dissidenten aus 56 autoritären Regimen, sprechen wir oft darüber und sehen, dass Diktatoren dasselbe Werkzeug nutzen: Sie verbreiten Desinformation, um uns zu spalten. Das hilft ihnen, an der Macht zu bleiben. Die Islamische Republik mag die Opposition außerhalb des Landes spalten, aber ich bin davon überzeugt, dass die Opposition innerhalb des Iran vereint bleibt. Wir müssen von ihr lernen und einen Weg finden, uns wieder zu vereinen. Die Islamische Republik hat uns alles genommen: unsere Heimat, unsere Freunde, unsere Familie. Aber sie konnte uns nicht die Hoffnung nehmen. Deshalb setze ich mich weiterhin dafür ein, Frauen im Kampf gegen Gender Apartheid zu vereinen. Denn ich glaube immer noch an Einheit.♦

*Nasim Azadi ist ein Pseudonym, um die Interviewerin zu schützen. 

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