Missachtung der Gesetze durch die Gesetzeshüter

Die Sozialaktivistin Afra* arbeitet seit Jahren mit Menschenrechtler:innen, die sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzen. Sie hat im Laufe dieser Zeit erlebt, dass Hinrichtungen hauptsächlich einem Zweck dienen: in der Gesellschaft Angst zu verbreiten. Dabei missachte auch die iranische Justiz die landeseigenen Gesetze.

Die jüngsten Hinrichtungen haben die Menschen im Iran in große Angst versetzt. Durch Hinrichtungen bekannter Personen und Gefangener, deren Namen den Iraner:innen geläufig sind, rückt das Gefühl näher, dass ein Todesurteil auch im eigenen Umfeld fallen kann. Auf einmal sind nicht mehr nur „die Anderen“ davon betroffen.

An der Universität, auf der Straße und bei Familientreffen sprechen die Menschen über die Themen Hinrichtung und Todesstrafe, und es ist dabei offensichtlich, dass die Abscheu eines großen Teils der Gesellschaft auf die Todesstrafe zunimmt. Dies gibt Anlass zu der Hoffnung, dass die Todesstrafe nach dem Fall der Islamischen Republik aus den iranischen Gesetzen gestrichen wird.

Im vergangenen Jahr 2023 wurden Mohsen Shekari, Mohammad Hosseini und andere hingerichtete Teilnehmer an den landesweiten Protesten unter dem Motto „Frau, Leben, Freiheit“ im Iran weltweit bekannt. Sie machen allerdings nur einen Bruchteil der Menschen aus, deren Leben durch das barbarische Urteil zum Tode ein Ende gesetzt wurde. Tausende weitere Menschen wurden in den vergangenen Jahren in den iranischen Gefängnissen aufgrund ihres Glaubens oder ihrer politischen oder auch nicht politischen Überzeugungen exekutiert, ohne dass jemand ein Bild von ihnen zu sehen bekommen oder ihre Namen gehört hat.

Die Mütter der Hingerichteten, die ich persönlich getroffen habe, machen das religiöse Oberhaupt der Islamischen Republik, Ali Khamenei, dafür verantwortlich. Die Urteile würden durch seinen direkten Befehl vollstreckt, um sein Regime zu stützen, glauben sie.

Für diejenigen, die sich seit Jahren für die Abschaffung der Todesstrafe im Iran einsetzen, sind die Anzahl der Urteile sowie die Instanzen, die diese verhängen oder bestätigen, allerdings irrelevant. Sie sind der Auffassung, dass dieses menschenunwürdige Urteil unter Beteiligung der iranischen Bevölkerung und von Menschenrechtsaktivist:innen im Ausland aus der Verfassung gestrichen werden muss und für immer der Geschichte angehören sollte.

Viele Menschen haben sich diesem Ziel gewidmet und wurden auf dem Weg dahin inhaftiert oder sahen sich gezwungen, den Iran zu verlassen. Denn das iranische Regime betrachtet die Todesstrafe, basierend auf dem islamischen Recht, als „göttliches Gebot“. Jeglicher Einspruch dagegen wird als Widerstand gegen die islamischen Gesetze abgelehnt.

Justiz missachtet Gesetze

Im Laufe meiner jahrelangen Aktivität in diesem Bereich bin ich auf Sachverhalte gestoßen, über die ich ganze Bücher schreiben könnte. Besonders interessant ist dabei die Nichtbeachtung der Gesetze durch die iranische Justiz selbst.

Ich werde einige Beispiele nennen, die sich in jüngster Zeit ereignet haben und die Verletzung moralischer Prinzipien durch das islamische Regime verdeutlichen – Handlungen, die sich weder durch Gesetze noch durch Religion erklären lassen.

Im Zug der Frau-Leben-Freiehit-Bewegung hingerichtet: (oben von li).: Mohsen Sherkai, Mohammad-Reza Rahnavard, Mohammad Hosseini, Mehdi Karami - (unten, von li.: Milad Zohrehvand, Said Yaghoubi, Saleh Mirhashemi, Majid Kazemi
Im Zug der Frau-Leben-Freiehit-Bewegung hingerichtet: (oben von li).: Mohsen Sherkai, Mohammad-Reza Rahnavard, Mohammad Hosseini, Mehdi Karami – (unten, von li.: Milad Zohrehvand, Said Yaghoubi, Saleh Mirhashemi, Majid Kazemi

So entfällt nach iranischer Gesetzeslage die Todesstrafe, wenn die Hinterbliebenen eines Mordopfers auf die Hinrichtung des Täters verzichten. In der Anfangsphase der „Frau, Leben, Freiheit“-Revolution haben einige Freunde und ich uns für die Freilassung eines Gefangenen in der iranischen Provinz Sistan und Belutschistan eingesetzt, der aus nicht-politischen Gründen zum Tode verurteilt worden war. Die Familie des Opfers des Tötungsdelikts war bereit, gegen Blutgeld auf die Exekution zu verzichten. Wir waren noch dabei, das nötige Geld aus Spenden zusammenzutragen, als uns die Nachricht der plötzlichen Hinrichtung des jungen Mannes erreichte.

Die zum Tode Verurteilten im Iran haben nach dem geltenden Gesetz vor der Vollstreckung der Strafe das Recht auf ein Abschiedstreffen mit ihren Familien. Dies wurde jedoch bei politischen und nicht-politischen Fällen häufig missachtet – unter anderem bei den vier kurdischen Gefangenen Pejman Fatehi, Wafa Azarbar, Hazhir (Mohammad) Faramarzi und Mohsen Mazloum, die Ende Januar wegen „Spionage für Israel“ exekutiert wurden. Ihre Familien haben bislang weder die Leichname erhalten, noch kennen sie den Bestattungsort. Auch damit werden die Angehörigen bestraft.

Die Hinrichtung der vier sorgte im In- und Ausland für großen Unmut. Menschenrechtsorganisationen verurteilten die Exekutionen und forderten die Weltgemeinschaft auf, den Druck auf die Islamische Republik zu erhöhen und so weitere Hinrichtungen zu verhindern.

Ebenfalls im Fall von Mohammad Ghobadlou wurde das gesetzliche Prozedere nicht befolgt. Während das Todesurteil in der zweiten Instanz außer Kraft gesetzt worden war und der Fall erneut vor einem Gericht verhandelt werden sollte, wurde Ghobadlou plötzlich hingerichtet. Ihm war vorgeworfen worden, während der landesweiten Proteste nach dem Tod von Mahsa Amini im Jahr 2020 einen Sicherheitsbeamten getötet und mehrere Beamten verletzt zu haben. Der 23-jährige Ghobadlou war psychisch krank. Zahlreiche Psychiater:innen hatten von der iranischen Justiz gefordert, ihn hinsichtlich seiner Zurechnungsfähigkeit untersuchen zu können. Er wurde jedoch übereilt exekutiert.

Auch Mojahed Kourkour droht eine bereits bestätigte Todesstrafe. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, während der Proteste „Frau, Leben, Freiheit“ den zehnjährigen Kian Pirfalak erschossen zu haben – und das, obwohl Kians Familie immer wieder die Unschuld von Kourkour betont und Sicherheitsbeamte für den Tod des Jungen verantwortlich macht.

Kian Pirfalak, Iran Proteste, UNICEF, Mahtab Keramati
Der 10-jährige Kian Pirfalak wurde während der landesweiten Unruhen am 16. Oktober 2022 in der Stadt Izeh nach Angaben seiner Eltern von Sicherheitskräften erschossen

Zweck der Hinrichtungen

Diese Hinrichtungen und Todesurteile sollen in der Gesellschaft das Gefühl von Angst und Schrecken erzeugen und so die Menschen von künftigen Protesten abschrecken. Sobald das iranische Regime den Eindruck hat, dass sich weitere Proteste anbahnen, wird es die Zahl der Hinrichtungen weiter erhöhen – mit der Zuversicht, dass die internationale Gemeinschaft kaum etwas dagegen unternehmen wird.

Doch früher oder später werden sich erneut landesweite Proteste im Iran formen; Proteste, die nicht nur aufgrund der wachsenden Unzufriedenheit noch intensiver ausfallen werden als bisher, sondern auch deshalb, weil die Ansätze der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung keineswegs verschwunden sind, sondern sich noch verstärkt haben. Dazu zählen unter anderem wachsende Armut, Korruption und Vetternwirtschaft sowie die zunehmende Unterdrückung von Frauen und jungen Menschen, die nicht wie die Generationen zuvor unter islamischen Regeln und Vorschriften leben wollen.

Diese jungen Menschen tragen die iranische Zukunft. Die Ära der Ayatollahs geht zu Ende. Der Westen und der Osten sollten sich allein aus eigenen Interessen deshalb besser auf die Zukunft des Iran einstimmen.♦

*Afra ist ein Pseudonym, unter dem die im Iran lebende Aktivistin für das Iran Journal schreibt.

Übersetzt aus dem Persischen von Iman Aslani (Pseudonym).

© Iran Journal

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