Angehende Fachärzt:innen im Iran: Druck, Drogen, Suizid

Viele angehende Fachärzt:innen im Iran berichten von prekären Arbeitsbedingungen. Finanzieller und beruflicher Druck gehören neben Schikanen, Gewalt und mangelnder Unterstützung zu ihrem Alltag. Das führe neben der Fachkräfteabwanderung zu besorgniserregenden Entwicklungen, warnen Kritiker:innen.

Von Iman Aslani

„Dem iranischen Gesundheitssystem droht der Zusammenbruch“ – mit diesem Satz ließ der Verein der iranischen Psychiater:innen Anfang Januar die Alarmglocken noch lauter schrillen. In einem Brief an den iranischen Staatspräsidenten Ebrahim Raisi brachte die Iranian Psychiatric Association auch ihre Besorgnis über die überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate unter angehenden Ärzt:innen zum Ausdruck. Und griff damit ein Thema auf, das in den vergangenen Jahren nicht zuletzt in den Sozialen Netzwerken bereits für große Diskussionen gesorgt hat. Dies schiene jedoch bei den Zuständigen Kreisen auf taube Ohren gestoßen zu sein, klagen Betroffene. In zwei Briefen an den Gesundheitsminister hat der Verein in den vergangenen Monaten Zahlen und Fakten vorgelegt und für sofortige Gegenmaßnahmen plädiert – bisher vergeblich.

Es gibt wenig Statistiken zur psychischen Gesundheit der Gesellschaft im Iran – zumindest keine öffentlich zugänglichen. In einem der beiden Briefe des Psychiater-Vereins an den Gesundheitsminister des Landes, der auch vom Vorstandsvorsitzenden des Nationalen Selbstmordpräventionsprogramms unterschrieben wurde, ist jedoch von einer Krise die Rede. Besorgniserregend ist demnach unter anderem das Ergebnis einer Studie, bei der mit 353 Mediziner:innen in der Facharztausbildung in Teheran über das Thema Suizid gesprochen wurde. 25 Prozent der Befragten hätten demnach an schweren und sehr schweren Depressionen gelitten, davon 25 Prozent auch Selbstmordgedanken gehabt. Zehn Prozent von ihnen seien sogar als Hochrisikofälle diagnostiziert worden. Diese Rate an Selbstmordgedanken sei fast zehnmal höher als in der Allgemeinbevölkerung, heißt es in dem Schreiben. Im Jahr 2021 hatten Studien gezeigt, dass mehr als 30 Prozent der Mediziner:innen in der Facharztausbildung „aufgrund außergewöhnlicher beruflichen Anforderungen“ sowie finanziellen Drucks unter Angstzuständen und Depressionen leiden.

Offiziellen Angaben zufolge sollen sich im Iran seit März vergangenen Jahres 16 angehende Fachärzt:innen das Leben genommen haben – darunter allein drei Fälle in der Zeit vom 13. bis zum 20. Januar 2024. Landesweit sind aktuell etwa 14.000 Mediziner:innen in der Facharztausbildung. In den vergangenen Jahren seien jährlich durchschnittlich 13 werdende Fachärzt:innen infolge eines Suizidversuches verstorben, so der Verein iranischer Psychiater:innen.

Symbolbild: Auswanderung der Ärzte und des Pflegepersonals aus dem Iran
In den iranischen Medien mehren sich solche Bilder und Berichte über die Auswanderung der Ärzte und des Pflegepersonals aus dem Iran

Viel Druck, wenig Unterstützung

In den Sozialen Netzwerken berichten Betroffene oder Personen aus ihrem Umfeld fast täglich über die enormen finanziellen, beruflichen und psychischen Lasten auf den Schultern werdender Fachärzt:innen. Im iranischen Gesundheitssystem werden Patient:innen medizinisch vor allem von Ärzt:innen in der Facharztausbildung betreut – den sogenannten Residenten. Dabei handelt es sich um qualifizierte Ärzt:innen, die in der Regel in einem Krankenhaus oder einer Klinik und unter direkter oder indirekter Aufsicht leitender Ärzt:innen Human- und Zahnmedizin oder klinische Pharmazie praktizieren. Die Ausbildung dauert im Durchschnitt vier Jahre. Ein mehrjähriger Dienst in den unterentwickelten Regionen des Landes ist dabei verpflichtend. Dabei werden die jungen Mediziner:innen jedoch arbeitsrechtlich nicht als Angestellte betrachtet, und sie gelten in dieser Phase auch weder als Studierende noch als berufstätig. Das führe zu niedrigen Löhnen – offiziell finanzielle Unterstützung genannt – und daraus resultierender intensiver Mehrarbeit, sagen Betroffene. Im Falle eines medizinischen Fehlers sollen die jungen Mediziner:innen sogar oft selbst die Entschädigung tragen. Und die geleisteten Jahre zählen nicht zu den Dienstjahren.

Ein Medizinerpaar schilderte vor kurzem gegenüber dem in London ansässigen persischsprachigen Fernsehsender BBC Persian seine finanzielle Situation während der Facharztausbildung in einer unterentwickelten Region des Iran. Sie verfügten nach ihren Aussagen dabei über ein Monatseinkommen in Höhe von 14 Millionen Toman, umgerechnet gut 230 Euro. Geleistete Überstunden seien mit enormer Verzögerung entlohnt worden – zum Teil erst nach einem Jahr. Zum Vergleich: Ein Mitglied der Wirtschaftskommission des iranischen Parlaments hatte im vergangenen Frühling die Armutsgrenze für die Hauptstadt Teheran um die knapp 500 Euro im Monat eingeschätzt. Außerhalb der Großstädte soll die Grenze um 400 Euro liegen.

Perspektivlosigkeit und fehlende Hoffnung habe sie vor die Entscheidung gestellt, auszuwandern oder weiterhin im Iran zu bleiben, berichteten die beiden Mediziner:innen dem BBC. Ihnen fehlten die nötigen Mittel, ihre Hochzeitszeremonie zu finanzieren, geschweige denn sich ein gemeinsames Leben aufzubauen.

Viele junge Mediziner:innen sollen Berichten zufolge sogar Schichten ihrer Kolleg:innen gegen Geldleistungen übernehmen – und das in einer Situation, in der die festgelegte Anzahl der Schichten und Arbeitsstunden während der Ausbildung ohnehin sehr engmaschig und intensiv getaktet sind. Der enorme Druck verstärke die Tendenz zu Arzneimitteln mit „anregender“ Wirkung, also Aufputschmitteln, sowie anderen Drogen.

In seinen Briefen an den Präsidenten und den Gesundheitsminister plädierte der Verein iranischer Psychiater:innen deshalb für bessere Bezahlung und geregelte Arbeitszeiten.

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Schikane und Gewalt

Die finanzielle Schieflage ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die Betroffenen berichten auch von Erniedrigung und Schikane, die sie durch dienstältere Kolleg:innen, sowie von Gewalt, die sie durch Patient:innen und deren Angehörige erfahren würden.

Im November vergangenen Jahres hatten mehrere Medien über den Selbstmord von Mitra Asoudeh, einer Chirurgin in der kurdischen Stadt Marivan im Nordwesten des Iran berichtet. Zwei Tage vor ihrem Suizid war sie von einem Gericht für den Tod eines ihrer Patienten schuldig gesprochen worden. Nach dessen Tod im April 2022 hatten einige seiner Begleiter:innen die Intensivstation des Krankenhauses gestürmt, die Chirurgin angegriffen und medizinische Ausrüstungen beschädigt. Asoudeh, Fachärztin für allgemeine Chirurgie und Brustkrankheiten, soll die einzige Chirurgin gewesen sein, die zu der Zeit in der vom Staat vernachlässigten Provinz Kurdistan arbeitete.

Der kolossale Druck führt nicht nur zu Depression beziehungsweise Selbstmord vieler Ärzt:innen. Seit Jahren wird über zunehmenden Fachkräftemangel berichtet, obwohl die medizinischen Fachrichtungen im Iran traditionell zu den beliebtesten Studienfächern gehören.

Der ehemalige Präsident der Teheraner Universität für Medizinische Wissenschaften, Ali Jafarian, bestätigte in den vergangenen Tagen die massive Auswanderungswelle von Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen. Außerdem sollen derzeit etwa 800 Ausbildungsstellen für Fachärzt:innen unbesetzt sein. Laut Jafarian bricht die Hälfte der Anästhesist:innen die Facharztausbildung ab. Ende Dezember hatte der Sprecher des iranischen Ärzterats bekanntgegeben, dass die Zahl der Auswanderungsanträge von medizinischem Personal in den vergangenen fünf Jahren um das Zehnfache gestiegen ist.

Der stellvertretende iranische Gesundheitsminister interpretiert die Lage allerdings anders. Saeed Karimi bewertete Mitte Dezember die Angaben zu einer großen Auswanderungswelle medizinischer Fachkräfte als „übertrieben“.

Die Zahlen sprechen jedoch für sich. Laut dem Iranischen Migrationsobservatorium, einer Beobachtungsstelle für Auswanderung an der Teheraner Eliteuniversität Sharif, hatten bis zum Sommer 2022 etwas 74 Prozent der iranischen Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen den Wunsch geäußert, das Land zu verlassen. Fachkräfteabwanderung und die psychische Last, die auf medizinischem Personal ruht, setzen das iranische Gesundheitssystem weiterhin unter Druck. Der Vorsitzende des iranischen Ärzterats hatte bereits im Jahr 2022 die Befürchtung geäußert, dass das Land bald auf Mediziner:innen aus dem Ausland angewiesen sein könnte .♦

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