Irans Zukunftsgestalter*innen

Seit 2018 gibt es im Iran landesweit vermehrt organisierte oder spontane Proteste mit zahlreichen Toten, Verletzten und Verhaftungen. Wer sind die Protestierenden, wer ruft zu den Protesten auf? Der politische Analyst Kian Tabrizi* hat für das Dossier „Alternativen zur Islamischen Republik im Iran“ des Iran Journals die wichtigsten Akteur*innen unter die Lupe genommen.

Die Höhepunkte der Proteste im Iran in den Jahren 2018, 2019 und 2021 haben die revolutionären Fundamente der islamischen Republik erschüttert. Mit ihrer landesweiten Ausbreitung wurde sichtbar, dass unter der Asche des erzwungenen Gehorsams bald das Munitionsdepot der Unzufriedenheit explodieren könnte. Allseits ist anerkannt, dass die Proteste der Bevölkerung Hunderter Städte keine vorübergehenden sozialen Ereignisse, sondern Indikatoren der massiven Veränderung der politischen und sozialen Strukturen des Landes sind. Zu beobachten war auch, dass sich die Abstände zwischen den Aufständen gegen das Regime verkürzten.

Über die Gründe für die Entstehung der Protestbewegungen im Iran ist viel gesagt und geschrieben worden. Die hier gestellten Fragen lauten: Gibt es im Iran eine von Kampferfahrungen geprägte breite Opposition mit dem Willen zur Macht? Können sich die Gegner*innen der Islamischen Republik auf eine gemeinsame Politik und Führung einigen? Gibt es moralisch und politisch legitimierte Persönlichkeiten, die als Personen oder Organisationsführung von der Bevölkerungsmehrheit wahrgenommen und akzeptiert werden? Der Blick auf die wichtigsten Akteure der iranischen Protestbewegung legt die Vermutung nahe, dass die Führung für den Übergang aus der Islamischen Republik aus den Reihen der Protestbewegungen hervorgehen wird.

Von “Non-movements” zur Massenbewegung

Unter Sozialwissenschaftler*innen ist es umstritten, ob es sich bei den Protestwellen im Iran um verzweifelte Formen der Unmutsäußerung oder um politische Massenbewegungen handelt. Der in den Niederlanden lehrende Sozialwissenschaftler Asef Bayat sagte in einem Interview mit der Webseite Meidan im August 2018, es gehe um bestimmte Formen der Armen-Bewegungen, die eigentlich eine Form von “Nicht-Bewegung” seien. Non-movement bezeichnet eine Interpretation der kollektiven Aktion städtischen Armer – des Volkszorns. Es ist die kollektive Aktion nicht-kollektiver Aktivist*innen, das Ergebnis des Sozialverhaltens einer großen Anzahl gewöhnlicher Menschen, deren verstreute, aber einheitliche Aktionen weitreichende soziale Veränderungen bewirken, selbst wenn diese keiner Ideologie, Führung und Organisation unterliegen. Nicht-Bewegungen hätten wichtige grundlegende Gemeinsamkeiten mit sozialen Bewegungen, meint Bayat, obwohl sie unterschiedliche Phänomene seien. Student*innen oder Arbeiter*innen könnten ihre Forderungen im Rahmen einer Universität oder einer Gewerkschaft verfolgen; für Arbeitslose, Hausfrauen und andere nicht-institutionelle Gruppen sei aber die Straße der einzige Ort, um Forderungen zu stellen: Die Straße ist die politische Arena solcher Gruppen.

Bewegung oder Nichtbewegung sind Begriffe zur Erklärung unterschiedlicher Formen der Armen-Revolte gegen Ungleichheit, die je nach Schwere der Deprivation und sozialem Kontext auf unterschiedliche Weise im sozialen Raum auftreten. Demokrat*innen streben nicht unbedingt einen Regimewechsel oder eine revolutionäre Agenda an. Stattdessen sind sie oft daran beteiligt, die Lebensbedingungen und -chancen der Menschen zu verbessern und zu erleichtern. Aber selbst solche Revolten können dramatische Veränderungen im persönlichen Leben der Akteur*innen und in großem Umfang in der Gesellschaft bewirken. Unter Bedingungen hoher politischer Mobilität können sich Menschen größeren Bewegungen anschließen oder sogar kleinere “Revolten” in soziale Bewegungen verwandeln.

Non-Movements im Iran zeigen, dass die Gesellschaft stark sein will, was ihr jedoch nicht erlaubt wird. Sie will eine gewünschte politische Ordnung haben, damit Regierung und Staat rechenschaftspflichtig werden. All dies zusammen hat Bewegungen hervorgebracht, die, obwohl erfolglos, ernsthafte Aufmerksamkeit und eine Änderung der Herangehensweise in verschiedenen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen erfordern. Der brodelnde Kochtopf der Gesellschaft muss wahrgenommen, seine Botschaften müssen verstanden werden.

Kurze Abstände und schnelle Wiederkehr

Am 20. November 2019 schreibt der iranische Journalist Roozbeh Boalhari auf der Webseite des in Prag ansässigen Radio Farda, seit dem Jahr 2000 seien die Abstände zwischen den Protesten im Iran jedes Mal kürzer geworden: Zwischen den ersten beiden Protesten hätten zehn, zwischen den Protesten von 2010 und 2018 acht Jahre gelegen, „und jetzt sehen wir drei Jahre hintereinander landesweite Proteste“. Zu beobachten sei auch eine quantitative und qualitative Ausweitung von gewerkschaftlichen Protesten in verschiedenen Regionen des Iran. Gewerkschaftsversammlungen oder Streiks von Arbeiter*innen, Lehrer*innen, Rentner*innen und Landwirt*innen seien keine unerwarteten Ereignisse mehr.

Zudem, so Boalhari weiter, hätte bei den Protesten in den Jahren 2000 und 2010 die Mittelschicht eine große Rolle gespielt. 2018 und 2021 sei dann eine signifikante Zunahme der Beteiligung von unterprivilegierten Schichten an den radikaler werdenden Protestdemonstrationen zu beobachten gewesen. Im Januar 2018 nannte der Sprecher des iranischen Innenministeriums für die ersten vier Jahre der Präsidentschaft von Hassan Rouhani die unglaubliche Zahl von 43.000 genehmigten und nicht genehmigten Kundgebungen im Iran: Das wären 30 pro Tag.

Es sei hier bemerkt: Das iranische Innenministerium genehmigt kaum jemals politische oder gewerkschaftliche Kundgebungen. Richtig ist aber die steigende Tendenz zu unangemeldeten Demonstrationen und Kundgebungen. In diese Richtung geht auch die Einschätzung der für Sicherheit in der Hauptstadt und dazugehörigen Städten der Provinz Teheran zuständigen Sicherheitsbasis der Revolutionsgarden, des Sarollah-Quartiers. In einem Treffen von Kommandanten der Revolutionsgarden und hochrangigen Angehörigen von Sicherheits- und Geheimdiensten am 21. November 2021 wurde aus einem siebenseitigen Protokoll zitiert: Demnach hatten Protestversammlungen 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent zugenommen, die Zahl der Demonstrant*innen war im gleichen Zeitraum um 98 Prozent gestiegen.

Die wichtigsten Kräfte im Land
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