Iran und Gaza-Krieg:  Auswirkung der Regierungspropaganda auf Bevölkerung

Seit den landesweiten Protesten im Iran werden heikle politische Themen, über die 40 Jahre lang nur im Verborgenen gesprochen wurde, in aller Öffentlichkeit diskutiert. Dieser Tage ist der Gaza-Krieg ein heiß diskutiertes Thema. Beobachtungen der jungen Aktivistin Afra* in der iranischen Hauptstadt Teheran.

23. November 2023 in der Teheraner U-Bahn: Ein Mann, der auf seinem Handy die Nachrichten zu lesen scheint, sagt mit lauter Stimme zu seinem jüngeren Begleiter: „Alle Gelder des iranischen Volks haben sie der Hamas gegeben, damit sie Israel bekämpft. Nun sorgt sich unser Regime um die Kinder im Gaza-Streifen, während viele Kinder im Iran nicht mal genug zu essen haben.“

„Die Zionisten töten seit Jahrzehnten die unterdrückten Menschen in Palästina“, antwortet rasch ein Mann, der ihnen gegenüber sitzt. „Macht ihr euch Sorgen um die Zionisten? Kann man euch Menschen nennen?“ Die beiden Männer werfen einen kalten Blick auf den dritten Mann und wechseln ihre Sitzplätze. „Regierungen zetteln Kriege an. Sterben tun normale, unschuldige Menschen“, sagt eine junge Frau, die die kurze Unterhaltung anhören konnte. „Wenn Menschen sterben, ist es eine Katastrophe. Noch schlimmer ist es, dass die Bomben, die auf Israel geschossen werden, von Geldern stammen, die uns zustehen.“

Der Mann, der die beiden Männer verbal angegriffen hatte, offenkundig ein Regimeanhänger, schreit die junge Frau aufgebracht an: „Was machen Sie hier überhaupt? Warum sind Sie nicht in den Frauenwaggon eingestiegen?“ Auch die Frau entfernt sich von ihm. 

Trotz für Frauen vorgesehene Waggons in den iranischen U-Bahnzügen steigen Frauen oft aus Platzmangel in die anderen Waggons ein.

Menschen trauen sich mehr

Themen, die vor dem Tod von Jina Mahsa Amini in der Regel in kleineren vertrauten Gruppen leise diskutiert wurden, werden mittlerweile lauter und in der Öffentlichkeit besprochen. Momentan hört man in Teheran häufig von dem Krieg in Gaza; zuhause, in der U-Bahn, an der Universität, im Cafe, im Restaurant.

„Ich bin gegen jede Regierung, jedes Volk, jede Gruppe oder Partei, die von der Islamischen Republik unterstützt wird.“

„Das Gesicht der Hamas bei ihren barbarischen Angriffen gegen Zivillisten ähnelt dem Gesicht der Islamischen Republik – blutrünstige religiöse Extremisten.“

„Ich bin gegen Krieg und Tötung, ganz egal, wo die Opfer herkommen. Ich empfinde sowohl für die Palästinenser als auch für die Israelis gleichermaßen Trauer.“

„Das [iranische] Regime wäre gegen Israel in den Krieg gezogen und hätte den Iran in den Ruin getrieben, wenn es dazu die Kraft hätte.“

„Das Leben eines extremistischen Palästinensers ist den Mullahs mehr wert als das Leben Hunderter freiheitsliebender Iraner:innen.“

Diese und ähnliche Sätze hören wir tagtäglich. Die iranische Gesellschaft hat sich stark polarisiert: Die eine Seite unterstützt den Kurs des Regimes und die Palästinenser. Die Mehrheit ist jedoch gegen die Einmischung der Islamischen Republik in den Gaza-Krieg. Sie ist der Meinung, dass die finanzielle Unterstützung des Gazastreifens angesichts des wirtschaftlichen Missstands im Iran ein zusätzliches Unrecht gegenüber der eigenen Bevölkerung ist.

Die Islamische Republik schickt Geld in den Libanon und an die Palästinenser, während die Iraner:innen nach offiziellen Angaben ständig tiefer in die Armut rutschen und die eigenen Grundbedürfnisse kaum noch decken können – Argument genug, dass ein Großteil der iranischen Bevölkerung das Leid der Palästinenser ignoriert.

In seiner Rede am 11. November sprach der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, öffentlich von den umfassenden Unterstützungen des Irans für den Krieg gegen Israel und dankte dem religiösen Oberhaupt der Islamischen Republik für seine Hilfe bei der Stabilisierung der Gaza-Front. Seine Aussagen sorgten für mehr Spannung in der iranischen Gesellschaft.

Mit solchen Bildern zeigen staatliche Medien im Iran ihre Sympathie für bewaffnete Gruppen der Palästinenser
Mit solchen Bildern zeigen staatliche Medien im Iran ihre Sympathie für bewaffnete Gruppen der Palästinenser

Viele verärgert über den Krieg

Die bestialischen Angriffe der Hamas-Kämpfer gegen Zivilist:innen in Israel am 7. Oktober, die auf Videoaufnahmen zu sehen sind, stellen einen weiteren Grund der Gleichgültigkeit der iranischen Bevölkerung gegen die israelischen Angriffe in Gaza dar.

Allerdings verurteilen viele Menschen im Iran die israelischen Angriffe in Gaza und sind über den Krieg verärgert. Nichtsdestotrotz ist der Kummer um das eigene Volk größer als die Empathie für die Palästinenser. Insbesondere aus Trotz gegen die Islamische Republik, die in Sachen Hamas und die Palästinenser katholischer als der Papst ist.

Das iranische Regime verbreitet seine antiisraelische Propaganda unter anderem durch große Plakatwände und das Verschicken von massenhaften Kurznachrichten im Mobilfunknetz, organisiert sinnlose Kampagnen wie „Registrierung von Freiwilligen für die Palästina-Front“ und produziert etliche Fernsehsendungen, um den Krieg gegen Israel heilig zu sprechen.

Dennoch „reagiert die Mehrheit der iranischen Bevölkerung sichtlich gleichgültig auf diese Krise“, wie der Teheraner Tageszeitung Shargh vor Kurzem den damaligen Diplomaten der Islamischen Republik, Kourosh Ahmadi, zitierte.

Mahsa-Bewegung und der Krieg in Gaza

Mittlerweile ist mehr als ein Jahr seit dem Tod von Jina Mahsa Amini vergangen. Bei den damit verbundenen Protesten kamen mehr als 500 Iraner:innen durch staatliche Gewalt ums Leben – darunter viele Kinder und Minderjährige. Immer noch werden in diesem Zusammenhang Menschen bedroht, verhaftet und hingerichtet. Die Worte eines meiner Freunde, der während der landesweiten Proteste im vergangenen Jahr mehrere Monate im Gefängnis verbrachte, können als gemeinsamer Nenner der Einstellungen vieler jungen Protestierenden gelten: „Es gibt niemanden, der über das Sterben von Kindern in Gaza oder das Töten von Menschen in Israel nicht traurig ist. Eines werde ich jedoch nicht vergessen, dass keine palästinensische Gruppe beziehungsweise Internetaktivist:in der trauernden iranischen Gesellschaft Mitgefühl kundtat, als Hunderte Jugendliche und Kinder in den Protesten getötet wurden. Es scheint, dass die internationale Solidarität für sie einseitig ist. Warum sollen dann die jungen Menschen im Iran für die Palästinenser:innen auf die Straße gehen?“

Eine weitere Tatsache ist, dass das iranische Regime jede spontane propalästinensische Kundgebung sich selbst und seinen Unterstützer:innen zuschreiben wird.

Die Islamische Republik wird zeitgleich keine Kundgebung für den Frieden zwischen Israel und den Palästinensern zulassen. In dem Sinne gilt: Solange das iranische Regime ins antiisraelische Kriegshorn bläst, bleibt die Mehrheit im Iran dem Krieg zwischen Israel und der Hamas gegenüber gleichgültig.♦

*Afra ist ein Pseudonym, um die Autorin zu schützen.

Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von Iman Aslani

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