Formiert sich die iranische Opposition?

Im Iran ebenso wie im Exil formulieren Aktivist:innen, Oppositionelle und gesellschaftliche Gruppierungen ihre Vorstellungen eines demokratischen Iran. Dabei kommt es zu interessanten Koalitionen, unerwarteten Meinungsänderungen und viel Zuspruch sowie Kritik.

Von Omid Rezaee

Fünf Monate nach dem Beginn des landesweiten Aufstands im Iran tritt die seit Jahrzehnten unterdrückte Zivilgesellschaft des Landes aus dem Schatten und versucht, die Vision eines Morgens ohne die Islamische Republik zu entwerfen. Der Unterdrückungsapparat hat es zwar mehr oder weniger geschafft, die Straßen aufzuräumen und die Proteste mit Gewalt zu drosseln. Gleichzeitig wagt sich die Opposition – im weitesten Sinne – aber an mehr als nur die Ablehnung des bestehenden Systems und hat begonnen, sich andere Formen des Zusammenlebens und Regierens vorzustellen und so einen oder mehrere Wege heraus aus der Sackgasse der Islamischen Republik zu bahnen.

Am 11. Februar kündigten acht Spitzenfiguren aus der iranischen Opposition im Exil an, dass sie an einer gemeinsamen Charta arbeiten, der „Charta der Solidarität und Organisation“. Reza Pahlavi, der Sohn des letzten Schahs, Shirin Ebadi, die Friedensnobelpreisträgerin, Abdullah Mohtadi, der Vorsitzende der Komala-Partei des iranischen Kurdistans – einer der größten kurdischen Parteien des Landes -, Masih Alinejad, Frauenrechtsaktivistin und Journalistin, Golshifteh Farahani, Schauspielerin, Nazanin Boniadi, Menschenrechtsaktivistin und Schauspielerin, Hamed Esmaeilion, Sprecher der Assoziation der Familien der Opfer des Fluges PS752 und der Fußballidol Ali Karimi erklärten bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass seit Wochen Verhandlungen unter ihnen im Gange seien, um viele Differenzen beizulegen. Sie wollen der Öffentlichkeit bis Ende Februar ihre Strategie für den Sturz des Regimes präsentieren.

(Oben v. li.) Reza Pahlavai, Shirin Ebadi, Masih Alinejad, Hamed Esmaeilioun, (u. v. li.) Nazanin Boniadi, Ali Mohtadi, Golshifteh Farahani, Ali Karimi
(Oben v. li.) Reza Pahlavai, Shirin Ebadi, Masih Alinejad, Hamed Esmaeilioun, (u. v. li.) Nazanin Boniadi, Ali Mohtadi, Golshifteh Farahani, Ali Karimi

Die massive Unterdrückung im Iran hat zur Folge, dass jegliche Art der Organisation der Proteste innerhalb des Landes nahezu unmöglich geworden ist. Unter diesen Bedingungen ist in den letzten Monaten der Appell zur Bildung einer oppositionellen Koalition im Exil, die zur Stimme der Proteste wird, die revolutionäre Bewegung im Ausland repräsentiert und wenn möglich die Proteste koordiniert, laut geworden. Die Pressekonferenz im Georgetown Institute for Women, Peace and Security am 11. Februar war die Reaktion der Schlüsselfiguren der Auslandsopposition darauf. Die versprochene Charta wäre der nächste Schritt in Richtung dieser Koalition. Die Charta soll die Forderungen eines großen Teils der unzufriedenen Bevölkerung beinhalten, aber auch den Weg beschreiben, wie diese Forderungen umgesetzt werden, versprachen die Initiator:innen. 

Mousavi plädiert für eine neue Verfassung

Jedoch ist diese Gruppe, diese noch aufzubauende Koalition, längst nicht die einzige mit einer Vision für die iranische Zivilgesellschaft.

Am 4. Februar erkannte Mir Hossein Mousavi, der Anführer der „Grünen Bewegung“ und eine der wichtigsten Figuren der Reformbewegung im Iran, in einem offenen Brief erstmals das Scheitern der Reformbewegung an. Die Bürger*innen seien von den Reformen innerhalb des Systems enttäuscht, schrieb der frühere Ministerpräsident der Islamischen Repbublik in dem Brief, und: Die Verfassung sei durch wachsende Armut, abenteuerliche Außenpolitik, wirtschaftliche Korruption und die Unterdrückung der Freiheit von Frauen nicht länger effizient. Man müsse einen Schritt darüber hinaus wagen, eine neue Verfassung.

Mir Hossein Mousavi
Mir Hossein Moussvi

Mousavi plädiert dafür, an den eigenen Willen zu glauben: „Selbst der Gedanke an ein neues System erschüttert die Grundlage der autokratischen Macht.“ Der Kandidat der Präsidentschaftswahlen von 2009 steht seit Februar 2011 unter Hausarrest, da er damals die offiziellen Wahlergebnisse nicht anerkannt und erklärt hatte, er habe mit großem Abstand gegenüber dem erzkonservativen Mahmoud Ahmadinejad die Wahlen gewonnen. Zwischen Juni 2009 und Februar 2011 herrschten Unruhen auf den Straßen Irans, als Mousavis Anhänger*innen gegen einen „großen Wahlbetrug“ protestierten.

Mousavis Aufruf zum Referendum für eine neue Verfassung weist auf einen Kurswechsel hin. Denn er war in den letzten Jahren dem Kern der Islamischen Republik treu geblieben und hatte die vollständige Umsetzung der Verfassung als Lösung für alle Probleme des Landes betrachtet. Sein Aufruf hat in der iranischen Zivilgesellschaft unübersehbaren Zuspruch gefunden: Über dreihundert politische Aktivist*innen, Journalist*innen und Kulturschaffende haben in einem gemeinsamen Schreiben ihre Unterstützung für Mousavis Vorschläge erklärt. Mit dabei sind bekannte Persönlichkeiten sowohl im Land als auch im Exil.

Ein überrasschender Zusammenschluss

Auch die unabhängigen Gewerkschaften, feministische Gruppen und Studentenorganisationen haben ihre Vision für einen freien und demokratischen Iran und den Weg dorthin beschrieben. Am 14. Februar veröffentlichten zwanzig Gruppen die „Charta der Grundforderungen“ und riefen alle gesellschaftlichen Gruppierungen dazu auf, ihre minimalen Forderungen zu unterstützen. Mit Blick auf die Jahrzehnte der Unterdrückung von marginalisierten Gruppen hätten diese Proteste den Anspruch einer grundlegenden Veränderung im Land, die allen Formen der Diskriminierung ein Ende setzen solle, heißt es in der Charta.

Protest in Sistan und Belutschestan
Landesweite Proteste im Iran führen zu Koalitionen unterschiedlicher politischen Gruppierungen und Persönlichkeiten

Die sogenannten „minimalen Forderungen“ der zwanzig Organisationen und Kollektive, die die Charta unterzeichnet haben, fangen mit der sofortigen Freilassung aller politischen Gefangenen an, gefolgt von Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit, der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Anerkennung der Rechte von LGBTQI+-Personen und der Trennung von Religion und Staat. Arbeitsplatzsicherheit, bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte, Erhöhung des Mindestlohns und Freiheit für Gewerkschaften sind die nächsten Forderungen dieser Charta. Auch eine friedliche Außenpolitik und respektvolle Beziehung mit allen Staaten werden erwähnt.

Die Charta wurde von großen Organisationen wie dem Koordinierungsrat der iranischen Lehrergewerkschaften und der Freien Union der Iranischen Arbeiterschaft unterschrieben, aber auch von feministischen Gruppen wie Bidarzani. Auch The Center for Human Rights Defenders und die Organisation progressiver Studenten gehören zu dieser Initiative, die auf breite Zustimmung, aber zum Teil auch auf Kritik gestoßen ist – genauso wie der Aufruf von Mir Hossein Mousavi und die angekündigte Charta der im Exil lebenden Oppositionellen.

„Die Revolutionäre wussten, was sie wollten, nämlich den Sturz des Schah-Regimes; aber sie wussten nicht, was sie ersehnten.“ So lautet eine These zur Revolution von 1979, die nicht zur Demokratie führte. So könnte man die Schwäche der nicht-islamischen Kräfte damals zusammenfassen. Nach 44 Jahren scheint alles anders: Die Revolutionäre versuchen, ihre Vorstellungen von der Zukunft zur Diskussion zu stellen. Unterschiedliche Flügel der Opposition, seien sie rechts oder links, konservativ oder progressiv, im Land oder im Exil, schließen sich zusammen, präsentieren Strategien zum Sturz des Regimes, aber auch Lösungen für zahlreiche Konflikte des Landes an dem Tag nach der Revolution.♦

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