Irans Arbeiterinnen und die landesweiten Proteste

Welche Rolle spielen Arbeiterinnen bei den Protesten im Iran, bei denen die Forderungen der Frauen im Mittelpunkt stehen? Warum hat die Arbeiterbewegung im Iran immer noch ein männliches Gesicht? Das Iran Journal hat ein Interview der Webseite Iran Wire mit der Vizepräsidentin des Freien Verbands Iranischer Arbeiter:Innen, Parvin Mohammadi, übersetzt.

Frauen sind zweifellos die treibende Kraft der landesweiten Proteste der vergangenen Monate im Iran. Von Beginn an standen ihre Forderungen und Themen im Vordergrund. Das Motto „Frau, Leben, Freiheit“ zog immer mehr Menschen an.

Allmählich stellt sich jedoch die Frage nach der Rolle der Arbeiterinnen bei den Protesten. Warum stehen sie den Protestierenden nicht tatkräftig bei, obwohl ihre Verbände trotz aller Schwierigkeiten nach wie vor aktiv sind? „Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass auch Arbeiterinnen in der patriarchalischen Gesellschaft des Iran – wie übrigens die anderen Frauen auch – ihren Kampf gegen Diskriminierung erst in ihren eigenen vier Wänden führen müssen, bevor sie es in der Gesellschaft tun“, sagt die Vizepräsidentin des Freien Verbands Iranischer Arbeiter:Innen, Parvin Mohammadi.

Die langjährige Arbeiteraktivistin, die bereits mehrmals verhaftet wurde, glaubt: „Die Arbeiterinnen müssen sich – bis auf wenige Ausnahmen – zwischen gesellschaftlichem Engagement und der Fortführung ihrer Ehe entscheiden, weil sie in ihrer Sache von ihren Ehemännern nicht genug unterstützt werden.“ So ergehe es auch ihr und vielen Arbeiterinnen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Laut Mohammadi wird in den meist männlich dominierten Sektoren der Arbeiter:innen kaum die Präsenz von Frauen als Arbeitskräfte geduldet, geschweige denn, dass sie sich als Belegschaftsvertretung zur Wahl aufstellen lassen.

Frauen glauben an ihrem Sieg gegen das diskriminierende System
Frauen glauben an ihrem Sieg gegen das diskriminierende System

Herrschende definieren die Frauenrolle

„Was wir heute erleben, ist das Aufbrechen alter Strukturen“, sagt die Vizepräsidentin des Freien Verbands Iranischer Arbeiter:innen und freut sich über die Teilnahme der jungen Generation an den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. „Dass heute die jungen Frauen für ihre Rechte auf die Straße gehen, verspricht Gutes für die Zukunft. Meine Mitstreiterinnen und ich mussten in den vergangenen 43 Jahren einen großen Teil unserer Energie zur Bekämpfung festgefahrener Frauenbilder in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aufwenden“, berichtet Mohammadi aus ihrer eigenen Erfahrungen als Arbeiteraktivistin und Verbandsmitglied weiter. „Die Herrschenden haben in den vergangenen vier Jahrzehnten die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Rolle der Frau nach ihrer eigenen Auffassung definiert. Ich konnte mich auf der Arbeit erst als Belegschaftsvertreterin einsetzen, nachdem ich mich von meinem Ehemann scheiden ließ.“

Hohe Hürden

Als einzige weibliche Mitarbeiterin in der Fabrik hat Parvin Mohammadi das Vertrauen von 1.200 Mitarbeitern gewinnen können. Bei Treffen der Personalvertretungen verschiedener Fabriken war sie jedoch die einzige Belegschaftsvertreterin, erinnert sich die Aktivistin. „Obwohl ich wusste, dass es auch in den anderen Fabriken Arbeiterinnen gab, fehlte von ihnen in den kollektiven, öffentlichen Aktionen jegliche Spur.“ Sie hätten sich zurückgehalten, ohne probiert zu haben, ob ihnen ihre männlichen Kollegen vertrauen.

An der Anti-Schah- Revolution von 1979 nahmen Frauen mit und ohne Kopftuch teil
An der Anti-Schah- Revolution 1979 nahmen Frauen mit und ohne Kopftuch teil

Nachdem sie dem landesweiten Freien Verband Iranischer Arbeiter:innen beigetreten war, sei ihr umso klarer geworden, wie wichtig es war, in ihrer Fabrik Belegschaftsvertreterin zu sein, erzählt sie. Das zeige der Gesellschaft, dass nicht das Geschlecht über Einsatz und Aktivität einer Person entscheiden soll.

Ist der landesweite Aufstand im Iran weiblich?

Parvin Mohammadi teilt diese Sichtweise nicht. „Für die aufgeklärte Generation von heute und im fortschrittlichen Weltbild besteht die Welt nicht ausschließlich aus binärer Geschlechtsidentität.“ Die Protestierenden im Iran streben ihrer Meinung nach die Gleichberechtigung und die Beseitigung von Diskriminierung für alle Menschen an.

Nach der Machtübernahme des religiösen Regimes im Iran seien vielen Menschen aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtsspezifischen Identität ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten beraubt worden, stellt die Aktivistin fest. „Homosexuellen drohte die Todesstrafe und Frauen wurden als zweites Geschlecht die Grundrechte weggenommen.“

Frauen im Iran leisten enormen Widerstand gegen die Moralvorstellung der Islamisten - Foto: Junge Frauen in einem Park in Isfahan!
Frauen im Iran leisten enormen Widerstand gegen die Moralvorstellung der Islamisten – Foto: Junge Frauen in einem Park in Isfahan – 2020!

„Die derzeitige Revolution peilt einen Status an, in dem Menschen geschlechtsunabhängig und nur als Menschen wahrgenommen werden und ihre sexuelle Identität nicht für Diskriminierung und Demütigung ausgenützt wird. Aus diesem Grund unterstützen auch Männer die Proteste, weil sie wissen, dass die Anerkennung solcher Grundrechte zur Anerkennung der Grundrechte anderer Mitglieder der Gesellschaft beitragen wird.“

Laut Mohammadi kam Jina Mahsa Amini in einer Zeit ums Leben, in der die Iraner:innen nach zwei gescheiterten Revolutionen – der Konstitutionellen Revolution (1905-1911) und der islamischen Revolution 1979 – genau wissen, was sie wollen. Die Menschen im Iran hätten die zügellose Brutalität des Regimes im November 2019 erlebt und wollten der Islamischen Republik ein Ende bereiten. „In den Protesten der vergangenen Jahre wurde nie so oft und so direkt Parolen gegen das Oberhaupt des Regimes gerufen.“

Wo steht die iranische Arbeiter:innenbewegung heute?

Während der landesweiten Proteste der vergangenen Monate wurden mehrere Arbeiter getötet oder festgenommen. Mindestens zwei Arbeiter der Teheraner Verkehrsbetriebe sind in den vergangenen Monaten verschwunden. Einer von ihnen tauchte später in einem Gefängnis auf. Von dem anderen fehlt nach wie vor jede Spur. Mindestens 25 Arbeiter und Arbeiteraktivisten befinden sich derzeit in Untersuchungshaft oder sitzen langjährige Gefängnisstrafen ab. Einige von ihnen wurden während der Proteste der vergangenen Monate festgenommen. Nichtsdestotrotz haben Arbeiter:innen bislang weder großflächig gestreikt noch die Proteste systematisch unterstützt. Dafür gebe es jedoch Gründe, erklärt Parvin Mohammadi.

Die Islamische Republik habe aus der Erfahrung der islamischen Revolution 1979 gelernt und lasse unabhängige Arbeiter:innenverbände nicht zu, so Mohammadi. Das Regime im Iran habe außerdem parallele Organisationen und Verbände geschaffen, die die Zusammenarbeit der Arbeiterverbände und ihre Rekrutierungen störten und verhinderten. Ein Beispiel sei der Freie Verband Iranischer Arbeiter:innen, dessen Mitglieder zum beachtlichen Teil entweder im Gefängnis sitzen oder sich in einem Gerichtsverfahren befinden. „Aber landesweite Arbeitsstreiks werden stattfinden“, ist sich die Aktivistin sicher. Allerdings dann, „wenn die Arbeiter:innen davon ausgehen können, dass ihre Teilnahme an den Protesten keine Konsequenzen seitens der Arbeitgeber mit sich bringen würde.“

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