Ibrahim Raisi: Gegenstand von Hass und Häme
Seit der Bekanntgabe des Todes von Irans Präsident Ibrahim Raisi melden sich Iraner:innen in den sozialen Netzwerken zu Wort. Doch was sagen die Menschen außerhalb der Medien? Eindrücke unserer Kollegin Mina Tehrani* aus der iranischen Hauptstadt.
Wenn man wissen will, welche Themen die Menschen in unserem Bezirk Teherans gerade beschäftigen, muss man bei Agha Mortesa vorbeischauen. In seinem Lebensmittelladen verkehren alle möglichen Kund:innen, hauptsächlich aus der Mittelschicht. Sie lassen sich oft Zeit, plaudern und diskutieren über Gott und die Welt. Manchmal wird es auch hitzig und kommt zu einem verbalen Streit. Dann übernimmt der Chef die Rolle des weisen Vermittlers.
Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass das, was für die Mittelschicht im Osten der Hauptstadt relevant ist, mehr oder minder auch den Rest des Iran interessiert.
„Seit heute morgen ist das einzige Thema der Absturz des Hubschraubers von unserem geliebten Präsidenten“, sagt Agha Mortesa am Montag, einen Tag nach dem Unglück, bei dem Ibrahim Raisi, Außenminister Amirabdollahian und sieben weitere Menschen ums Leben kamen. Das Adjektiv „beliebt“ betont er übertrieben und lässt so erkennen, dass er Raisi nicht mochte.
Der freundliche Ladenbesitzer ist einer der vielen Millionen Iraner:innen, die den Tod von Ibrahim Raisi und seinen Begleitern nicht betrauern. Es hat sogar, in den sozialen Netzwerken veröffentlichten Videos zufolge, vielerorts Freudentänze und in manchen Städten, besonders in benachteiligten Provinzen des Landes wie Kurdistan, Feuerwerke gegeben.
Der als „Blutrichter“ bekannte Präsident war nicht nur für Erschießungen und Erhängungen von Tausenden politischen Gefangenen in den 1980er Jahren und die brutale Niederschlagung der anfänglich friedlichen Proteste nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini im Jahr 2022 mitverantwortlich. Er hat laut Expert:innen mit seinem inkompetenten Kabinett auch zur weiteren Isolierung des Iran und der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Landes beigetragen.
Der verstorbene Geistliche gehörte zum harten Kern der Islamisten um den religiösen Führer Ali Khamenei und hat mit dafür gesorgt, dass selbst seine Reformer-Brüder aus dem Machtapparat vertrieben wurden.
Russen, Israelis und die USA
Da die Islamische Republik seit ihrem Bestehen keine Details über derartige Vorfälle veröffentlicht, gibt es auch jetzt viele offene Fragen und noch mehr Spekulationen: Warum musste der Präsident eines Landes, das behauptet, Satelliten ins All zu schicken und die modernsten Raketen entwickelt zu haben, mit einem amerikanischen Hubschrauber fliegen, der vierzig bis fünfzig Jahre alt war? Warum bei derart schlechten Wetterbedingungen, dass die gut ausgebildeten Suchmannschaften nicht in der Lage waren, den Unfallort ausfindig zu machen? Warum hat Teheran dafür die türkische Regierung um Suchdrohnen gebeten, während iranische Drohnen von Russland aus präzise die Infrastruktur der Ukraine zerstören können? Zwei Hubschrauber haben den Präsidentenflieger begleitet; warum ist ihnen nichts passiert?
Aber auch über die Beteiligung mancher Kräfte oder Länder an dem Unfall sind viele Verschwörungstheorien im Umlauf.
„Für das System, besonders für den Führer, muss es ein schmerzlicher Verlust sein“, sage ich und warte auf eine Antwort von Agha Mortesa. Er zögert lange mit seiner Antwort: „Ich glaube nicht!“
„Warum nicht?“, will ich wissen.
Statt Agha Mortesa antwortet eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, die ohne Kopftuch das Haus verlassen hat: „Der Absturz ist ja nicht ohne Grund passiert. Nun hat Mojtaba einen Rivalen weniger.“
Seit Jahren wird über den Nachfolger des heute 85-jährigen Khamenei spekuliert. Tatsächlich wurde Raisi als einer der möglichen Kandidaten gehandelt – zumindest von einem Teil der Hardliner. Der zweite Sohn des Staatsoberhaupts Khamenei, Mojtaba, soll von einem anderen Teil der Machthaber als möglicher Nachfolger in Erwägung gezogen worden sein. Damit würden wir allerdings in die Zeit vor der Revolution von 1979 zurückfallen – in eine Erbdynastie.
Agha Mortesa schüttelt verneinend den Kopf. Er ist sich sicher, dass Mojtaba Khamenei mit „der Tötung“ von Raisi nichts zu tun habe. „Die Russen stecken dahinter, oder Israelis“, sagt er und fügt hinzu: „Das habe ich von einem Kunden gehört, der gut informiert ist“.
„Warum die Russen?“
„Weil sie die Verhandlungen zwischen Raisis Regierung und Amerika nicht dulden können. Außerdem wird der Westen für ein paar Tage den Ukraine-Krieg vergessen“.
Die aktuellen Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA haben im Januar dieses Jahres in Oman begonnen und gehen nach einer kurzen Pause – nach den gegenseitigen Angriffen zwischen Iran und Israel – weiter. Bei den Verhandlungen geht es angeblich darum, den Einfluss des Iran zu nutzen, um die Angriffe der Huthi-Rebellen im Jemen auf Schiffe im Roten Meer zu beenden.
Für manche Regimeanhänger:innen tragen die USA am Absturz des Hubschraubers Mitschuld. Dieser Meinung ist auch der iranische Ex-Außenminister Mohammad Javad Zarif: weil der Iran wegen der US-Sanktionen keine Ersatzteile für die Hubschrauber bekommen kann. Zarif verdammt die Sanktionen seitens der USA, erwähnt aber mit keinem Wort, wie sie zustande gekommen sind, nämlich als Reaktion des Westens auf die Agitationen der Islamischen Republik: erst die Geiselnahme der Angehörigen der US-Botschaft in Teheran 1979, dann terroristische Aktivitäten in der Region und dem Rest der Welt zwecks Exports der islamischen Revolution, Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Landes, Vernichtungsdrohungen gegen Israel und last but not least der Versuch des Baus von Atombomben.
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