Ibrahim Raisi: Gegenstand von Hass und Häme

Fünf „Trauertage“

Khamenei hat sich bisher damit begnügt, zu sagen, dass der Tod Raisis keinen Einfluss auf die Zukunft seines Regimes habe. Er hat auch fünf Trauertage angeordnet, doch außer bei einer kleinen Minderheit – fünf bis zehn Prozent der Teheraner Bevölkerung – sieht man statt Trauer fröhliche Gesichter. Eine Freundin sagte einen Tag nach der Bekanntgabe von Raisis Tod: „Nicht einmal während des dreizehntägigen Nourooz-Festes habe ich so viele fröhliche Gesichter in Teheran gesehen.“

Freund:innen und Kolleg:innen in anderen Großstädten melden Ähnliches.

In den staatlichen Medien sieht man aber nur trauernde Menschen und Nahaufnahmen von weinenden jungen Iraner:innen.

„Noch nie habe ich so viel Witze über einen Toten gehört“, sagt eine Kollegin. Tatsächlich sind die sozialen Netzwerke voll von makabren Witzen.

Im Gegensatz dazu versucht der Staat mit allen Mitteln den Eindruck zu erwecken, als wäre Raisi ein beliebter Politiker gewesen. Viele Aktivitäten in den Bereichen Unterhaltung, Sport, Kultur und Kunst sind eingestellt worden. Auch die meisten Kinos, besonders in den Provinzen, dürfen in den fünf Tagen keine Filme zeigen. Aus einigen Städten wird gemeldet, dass die Internetgeschwindigkeit stark reduziert worden sei. Staatliche und private Säle sind verpflichtet, fröhliche Zeremonien wie Hochzeiten abzusagen oder ohne Musik abzuhalten. Polizisten und andere Sicherheitskräfte in Uniform und Zivil sind überall unterwegs und mahnen Restaurants und Cafés, keine fröhliche Musik zu spielen.

Mohammad Movahedi-Azad, der Generalstaatsanwalt des Landes, hat am Montag ein Rundschreiben herausgegeben, in dem den Bürger:innen befohlen wird, von der Veröffentlichung kritischer oder humoristischer Posts in den sozialen Netzwerken abzusehen. Zuwiderhandlungen sollen juristische Folgen haben.

Das letzte Foto von Raisi (roter Feil) und sein Außenminister Amirabdollahian (3. von rechts)
Das letzte Foto von Raisi (roter Feil) und sein Außenminister Amirabdollahian (mit Hand auf der Brust)

Die iranische Cyber-Armee hinkt hinterher

In weniger als 48 Stunden nach Raisis Tod sollen laut dem oppositionellen Telegram-Kanal „Die Stimme der iranischen Republikaner“ mehr als 305.000 Tweets im Zusammenhang mit diesem Ereignis veröffentlicht worden sein. Die Tweets seien mehr als neun Millionen Mal „geliked“ worden. Im gleichen Zeitraum habe es bezüglich des Hubschrauberabsturzes „die erstaunliche Anzahl von 467.000 Telegram-Posts mit etwa zwei Milliarden Aufrufen“ gegeben.

Auch bei Instagram soll es einen Rekord gegeben haben: Allein im Account der BBC Persian, der beliebtesten persischen Seite auf Instagram, sollen die veröffentlichten Videos mehr als 83 Millionen mal angesehen worden sein.

Die Kommentare unter solchen Posts sind sehr unterschiedlich. Die meisten sind hasserfüllte und beleidigende Stellungnahmen oder Schimpfworte gegen Raisi und das islamische Regime insgesamt. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, bei denen die regimeverherrlichenden Posts der iranischen Cyber-Armee im Meer der Stellungnahmen von Regimegegnern untergehen. Raisis Tod hat eine solche Gelegenheit geschaffen.
Es gibt auch Trauerbotschaften oder Beileidsbekundungen – ähnlich wie die des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz.

Und eine dritte Gruppe wünscht sich, dass Menschen wie Ibrahim Raisi nicht sterben, damit sie „in naher Zukunft“ vor Gericht gestellt und rechtsstaatlich für ihre Verbrechen büßen sollen.

Agha Mortesa gehört nicht zu der letzten Gruppe: „Ich wünsche mir den gleichzeitigen Tod aller Verantwortlichen des Regimes“, flüstert er mir ins Ohr und wackelt dann lächelnd mit dem Kopf, als wollte er sagen: Bald werden wir sie los!♦

*Mina Tehrani ist ein Pseudonym, um die Autorin zu schützen!

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