Ein Schlachtfeld namens Zwangsverschleierung

Die Diskussion um die Zwangsverschleierung im Iran hat einen historischen Wendepunkt erreicht. Die einen nennen den Schleier „die Berliner Mauer“, die anderen sehen ihn als ein Machtmittel, das das Regime nicht aus der Hand geben darf. Der Staat ergreift immer drastischere Maßnahmen, um seinen Willen durchzusetzen.

Von Mina Tehrani*

„Der Hijab ist unsere Flagge, die der Feind herunternehmen will“, sagte am 20. April der einflussreiche Ayatollah Mahdavi, der dem iranischen Expertenrat angehört. „Derzeit befinden wir uns in einem Kriegsähnlichen Zustand (gegen die unverschleierten Frauen)“, zitierte die der iranischen Revolutionsgarde nahestehende Nachrichtenagentur Fars einen „Sozialexperten“. In vielen Artikeln von Regime-Gegner*innen liest man dagegen inzwischen diesen Vergleich: „Der obligatorische Hijab ist für das islamische Regime wie die Berliner Mauer für die DDR“; sollte sie abgeschafft werden, werde das Regime stürzen.
Tatsächlich ist die islamische Kleidervorschrift für Frauen einer der drei Hauptpfeiler der Islamischen Republik. Die beiden anderen sind „Welayate Faqih“, die Statthalterschaft des Rechtsgelehrten, und die ewige Feindschaft gegen den Westen und Israel.

Ein entscheidender Kampf

Von Beginn an hat die Islamische Republik Gruppen und Vereine, die im Bereich der
Kleidervorschriften und persönlichen Freiheiten iranischer Frauen Aufklärungsarbeit geleistet haben, als „Feind“ empfunden und zerschlagen. Die Grundlagen für die Zwangsverschleierung wurden wenige Wochen nach dem Sieg der islamischen Revolution von 1979 gelegt und bestehen immer noch fort. Seitdem kämpft der Großteil der iranischen Frauen für das Recht auf freie Kleiderwahl.
Dieser Kampf wurde von Generation zu Generation weitergegeben und hat momentan einen Wendepunkt erreicht, an dem die letzte Generation ihre Kopftücher öffentlich anzündet und ohne Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit erscheint. Damit rüttelt sie wuchtig an einem der Hauptpfeiler der Islamischen Republik.
Ahmad Khatami, einer der radikalsten und einflussreichsten Kleriker im Iran und Vertreter des Staatsoberhaupts Ali Khamenei in der Pilgerstadt Maschhad, schlug schon während der landesweiten Proteste im vergangenen Jahr Alarm: „Wenn das Abnehmen von Kopftüchern nicht gestoppt wird, werden sie uns bald unsere Turbane vom Kopf reißen.“ Kurz darauf setzte eine Protestaktion an, die in der Geschichte des Islam ihresgleichen sucht: Jugendliche schleuderten Turbane Geistlicher auf die Straßen und in die Teheraner Metro.

Perfide Kampfmethoden

Das islamische Regime, das sich mit den Großmächten der Welt misst, hat innerhalb von vierundvierzig Jahren den Kampf gegen die Frauen im eigenen Land nicht endgültig gewinnen können. In diesen Tagen beschweren sich selbst in den kleinen konservativen Städten die Ayatollahs über die „Untätigkeit“ der Sicherheitskräfte bezüglich der Hijabverstöße. Denn auch dort gehen viele Frauen ohne Kopftuch shoppen. Tatsache ist, dass die Sicherheitskräfte nicht tatenlos sind. Bislang wurden unzählige Frauen, die in der Öffentlichkeit die Kleidervorschriften missachteten, verhaftet und bestraft. Mehrfach wurde ihnen ein Ultimatum gesetzt. Das Letzte endete am 15. April. Danach sollten die staatlichen Maßnahmen gegen sie noch rigoroser werden. Doch die Frauen zeigten sich unbeeindruckt. Wieder wurden viele verhaftet oder mit Bußgeldern belegt, doch nach wie vor sieht man Frauen mit hochtoupierten Haaren und in engen Jeans auf den Straßen, in den Einkaufzentren und in den Parks.
Nun sollen diejenigen bestraft werden, die solche Frauen bedienen, ob in den Läden oder bei den Behörden und Banken.
„Wir haben 80 Läden geschlossen, die Frauen, die kein Kopftuch trugen, Waren verkauft haben“, ließ der Polizeipräsident der Provinz Ost-Aserbaidschan im Nordwesten des Iran Journalist*innen am 19. April wissen.
Das ist nur ein kleiner Teil der Tausenden kleinen und großen Läden im ganzen Land, die aus diesem Grund geschlossen wurden. Darüber hinaus wurde Frauen ohne Kopftuch der Eintritt in Freizeit- und Kulturstätten verweigert.
Auch durch Gesichtserkennungstechnologie soll die Missachtung von Kleidervorschriften bekämpft werden. Diese Kameras haben Tausende Frauen identifiziert, die sich nicht an die von den Islamisten vorgeschriebene Kleiderordnung halten. Laut dem Polizeipräsidenten von Ost-Aserbaidschan sollen in einer kurzen Zeitspanne mehr als 2.000 Frauen in ihren Autos identifizierten worden sein und Mahnungen per SMS bekommen haben. 
Eine andere perfide Methode des Regimes gegen die nach Freiheit strebenden Frauen ist, Gläubige gegen sie aufzuhetzen. Die gläubigen Muslime sollen die Frauen ermahnen, sie fotografieren und der Polizei melden. Diese Maßnahme ist selbst unter den Machthabern umstritten, denn Bürger*innen gegeneinander aufzuhetzen, werde zum Chaos führen, warnen viele.

Für Verschleierung, gegen Zwangsverschleierung

Die revolutionäre Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“, die nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini im Teheraner Polizeigewahrsam ausbrach, ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Iran. Sie wird das Schicksal der Zwangsverschleierung im Land – und wahrscheinlich in vielen islamischen Ländern – besiegeln. Diesmal protestieren nicht nur die Gegner*innen der Kleidervorschriften gegen den staatlichen Zwang, sondern auch viele religiöse Iraner*innen, einschließlich der Frauen, die sich selber verschleiern.
Eine der berühmtesten Kritikerinnen der Zwangsverschleierung ist die Religionsforscherin Sedigheh Vasmaghi. In einem offenen Brief kritisierte das ehemalige Mitglied des Teheraner Stadtrats vor kurzem die Äußerungen von Ali Khamenei zu den staatlichen Kleidervorschriften für Frauen. Das Staatsoberhaupt hatte in einer Rede die Abnahme des Kopftuchs als einen politischen Akt eingestuft und sie als „haram“ (nach islamischen Regeln verboten) bezeichnet. Vasmaghi stellte in ihrem Brief diese Einstellung Khameneis aus religiöser Sicht infrage. Ein eindeutiger Zwang zur Kopfbedeckung für Frauen gehe aus dem Koran nicht hervor, schrieb die Islamforscherin und fragte in dem an Khamenei adressierten offenen Brief: „Auf welchen handfesten und unstrittigen religiösen Grundlagen und Argumenten basiert das strenge Modell der Islamischen Republik zur Kopfbedeckung von Frauen?“
Laut Vasmaghi ist die Frage der Frauenkleidung zur Zeit des Propheten des Islam nie so thematisiert worden, wie es heute der Fall ist. Es existiere außerdem kein Beweis dafür, dass zu Lebzeiten des Propheten und auch danach Frauen verfolgt und bestraft worden wären, weil sie ihre Haare oder sogar ihren Körper nicht bedeckten. Die Verantwortung für alle Konsequenzen der Bekämpfung der freiwilligen Kleiderwahl liege ausschließlich bei Khamenei, stellte Vasmaghi in ihrem Brief fest.
Doch der wichtigste Mann des Landes kümmert sich um solche Kritik nicht. Er weiß, dass er ohne Gewalt nicht mehr herrschen kann, und wer einen der wichtigsten Pfeiler seiner Alleinherrschaft gefährdet, darf nicht ohne Strafe davon kommen. Auf der anderen Seite lässt sich die junge Generation nicht mehr wie die vorherigen mit Drohungen oder physischer Gewalt einschüchtern.

Wer aus diesem Schlachtfeld als Sieger*in hervor geht, werden wir in naher Zukunft erleben.♦

Übertragen aus dem Persischen von Iman Aslani

*Mina Tehrani ist das Pseudonym unserer Kollegin im Iran.

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