Islamisches System an der Schwelle des Zerfalls

Wo befindet sich die iranische Gesellschaft derzeit: Steht eine Revolution bevor? Wird die Islamische Republik ihre letzte Fortbestandsmöglichkeit aus der Hand geben? Eine Analyse des im Iran lebenden Wirtschaftswissenschaftlers Mohsen Ranani, für das Iran Journal zusammengefasst von Iman Aslani.

Für den Universitätsprofessor Mohsen Ranani ist eins klar: Die Islamische Republik hat „die ersten drei Phasen“ des Zerfalls durchlaufen und steht an der Schwelle der „letzten Phase“.

Dysfunktionalität sei die erste Phase des Zusammenbruchs, die die Islamische Republik bereits hinter sich gebracht habe, stellte der Akademiker kürzlich in einem ausführlichen Beitrag auf dem Internetportal 3danet.ir fest. Seit fast anderthalb Jahrzehnten sei die iranische Gesellschaft zu dem Schluss gekommen, dass das politische System nicht in der Lage sei, die immer größer werdenden, selbstverursachten Herausforderungen und Krisen zu überwinden, so Ranani. In diesem Zusammenhang nennt er unter anderem „die Krise des Sozialversicherungssystems und der Rentenfonds, die Verkehrskrise mit jährlich 17.000 Verkehrstoten, die Wasser-, Strom- und Gaskrise, die Inflationskrise und der kontinuierliche Wertverlust der nationalen Währung, die Arbeitslosigkeitskrise, die Wohnungskrise, die Krise des überlasteten Justizsystems, die Korruptionskrise, die Krise der Umweltzerstörung“.  

Inkompetenz

„Untauglichkeit“ macht nach Meinung des Wirtschaftswissenschaftlers die zweite Phase des Zusammenbruchs  aus, die die Islamische Republik bereits durchlaufen habe. Aus Faszination für den charismatischen Gründer der Islamischen Republik, Ayatollah Ruhollah Khomeini, habe die iranische Gesellschaft anfangs die Tauglichkeit des Systems nicht infrage gestellt. Vor allem der Ausschluss von kritischen Kandidat*innen bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den vergangenen zwei Jahrzehnten, aber auch die umstrittenen Präsidentschaftswahlen von 2009 und der fehlende Wille beziehungsweise die Unfähigkeit des politischen Systems zur Bekämpfung von schweren Korruptionsaffären habe jedoch starke Zweifel an der Tauglichkeit der Islamischen Republik aufkommen lassen. Das brutale Vorgehen gegen Unruhen in den Jahren 2009, 2017 und 2018, das fehlende Verantwortungsbewusstsein der Mächtigen, das sich unter anderem beim Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs im Frühjahr 2020 zeigte, sowie die religiös-ideologische Rechtfertigung jeglicher politisch-gesellschaftlicher Niederlagen habe die Tauglichkeitskrise der Islamischen Republik vertieft. Der Umgang der Verantwortlichen mit dem Tod von Jina Mahsa Amini und den damit verbundenen landesweiten Protesten gegen das Regime hätten das Fass zum Überlaufen gebracht. Die unverhältnismäßig scharfen Urteile gegen Teilnehmer*innen der Proteste, die Schauprozesse und Zwangsgeständnisse, die unaufgeklärten Vergewaltigungsvorwürfe gegen Sicherheitskräfte und die Verunglimpfung der Proteste als vom Ausland gesteuert führt Ranani als Beispiele an, aufgrund derer die Mehrheit der Iraner:innen nun glaube, dass sich die Islamische Republik weder ihren eigenen Gesetzen noch den religiös moralischen Prinzipien verpflichtet fühle, deren Einhaltung sie von der Bevölkerung fordere.

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Bedeutungslosigkeit von Staatssymbolen

Auch die Staats- und Propagandasymbole der Islamischen Republik würden nicht mehr geachtet, so Ranani. Das sei das wichtigste Ergebnis der Protestwelle nach dem Tod von Mahsa Amini. Dass Propagandabanner und Statuen verbrannt und zerstört würden, dass immer mehr Frauen die Kleidervorschriften ignorierten, dass die Menschen die Niederlage der Fußballnationalmannschaft bejubelten, Künstler:innen und Prominente die staatlichen Zeremonien mieden, der staatliche Rundfunk als das mächtigste Propagandainstrument des Regimes stark an Glaubwürdigkeit und Reichweite verliere und sich eine der am weitesten verbreiteten Parolen der Proteste – „Tod dem Diktator“ – gegen das religiöse Oberhaupt der Islamischen Republik, Ali Khamenei, selbst richte, sind für ihn klare Zeichen dafür, dass die Islamische Republik den Kampf um die Aufrechterhaltung der Staatssymbole verloren und damit die dritte Phase des Zerfalls hinter sich gelassen habe.

Revolution von oben oder von unten?

Somit stehe das islamistische Regime im Iran an der Schwelle der vierten und letzten Phase des Zusammenbruchs, konstatiert der 57-jährige Akademiker. Das sei „die Phase des Zusammenbruchs der Strukturen“. Das Hauptmerkmal dafür sei der Verlust der Kontrolle über die Gesellschaft und die immer weiter abnehmende Flexibilität des politischen Systems. Ein markantes Beispiel dafür sieht Mohsen Ranani darin, dass immer mehr Frauen die Einhaltung der Bekleidungsvorschriften verweigerten und das Regime trotz härterer Maßnahmen und Kontrollversuche daran scheitere, die Zwangsverschleierung durchzusetzen.

Die Islamische Republik Iran hat nach Rananis Auffassung in den vergangenen vier Jahrzehnten jede Gelegenheit zu politischer Versöhnung oder gesellschaftlichem Dialog verspielt. Deshalb stehe sie nun an einem Scheideweg: einer Revolution entweder von oben oder von unten. Denn die neue Generation habe bei den landesweiten Unruhen nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini der Gesellschaft ihr Narrativ aufgedrückt und die Erwartungen an das politische System sprunghaft erhöht.

Die Unruhen der vergangenen Monate hätten der gescheiterten Politik der vergangenen Jahrzehnte eine endgültige Absage erteilt, meint Ranani. Nur durch radikale, tiefgreifende und flächendeckende Veränderungen könne das Regime die verlorene Glaubwürdigkeit wieder herstellen – „eine Revolution von oben“. Eine Revolution seitens der Machthaber für einen gewaltfreien und ruhigen Übergang, um ihre Macht vor schwerwiegenden und irreversiblen Schäden schonen und den Menschen hoffnungsvolle Perspektiven anbieten zu können. Eine Neuverfassung des Grundgesetzes unter breiter Beteiligung ziviler Eliten, um das politische System neu aufzustellen, sieht der Wirtschaftswissenschaftler als einen möglichen ersten Schritt.

Sollte die Islamische Republik auch diese Gelegenheit verstreichen lassen, warnt Ranani, drohe eine gewaltsame, blutige und verlustreiche Revolution von unten. Das wäre nach der Einordnung des Akademikers die vierte und letzte Phase des Umsturzes.

Eine Frage der Zeit?

Wann die mögliche vierte Phase eingeleitet wird, hängt laut Ranani von diversen Faktoren ab: dem Fortgang des Ukrainekriegs, bei dem der Iran als Verbündeter Russlands agiert, dem iranischen Atomprogramm, den politischen Beziehungen Chinas zu den regionalen Erzrivalen Islamische Republik und Saudi-Arabien, der weltgemeinschaftlichen Politik gegenüber der Islamischen Republik nach den jüngsten Unruhen, der mächtigen Geistlichkeit der Islamischen Republik, insbesondere des Staatsoberhaupts Ali Khamenei, der Entwicklung der wirtschaftlichen Misere im Iran, den möglichen Verteuerungen der kommenden Monaten, darunter eine Erhöhung des Benzinpreises, der Haushaltsdefiziten und insbesondere vom erneuten Entfachen von landesweiten Unruhen.

Mohsen Ranani bleibt trotz allem optimistisch. Er sieht sich als Teil „eines breiten Spektrums von gemäßigten Eliten und Aktivist:innen“ innerhalb des Iran. Diese sich neu formierende „gesellschaftliche Schicht“ – wie Ranani es nennt – sei ein vielversprechendes Zeichen für den „Beginn der gesellschaftlichen Reife“ –  eine Schicht, die in einer Gesellschaft ohne politische Parteien die Kosten und Verluste historischer Entwicklungen eindämmen könne, so Ranani. „Hätte es diese Schicht im Iran der 1960er und 1970er Jahre gegeben, wäre die Islamische Revolution mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zustande gekommen“, resümiert der Wirtschaftswissenschaftler.♦

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