„Beichte“ eines revoltierenden Mädchens
Eine junge Protestierende aus dem Iran erzählt in einem Video, warum sie und ihre Altersgenossen trotz Erschießungen, Verhaftungen und Folter weiter protestieren.
Seit einigen Jahren warnen reformorientierte politische Beobachter: innen im Iran das islamische Regime vor der Revolte der jungen Generation, genannt „Generation der 80er“. Gemeint sind Kinder, die in den 1380ern der iranischen Zeitrechnung, also in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts n. Ch. geboren sind.
Seitdem fordern die Beobachter:innen auch Reformen und teilweise persönliche und politische Freiheiten. Doch die Hardliner an den Schalthebeln der Macht haben sich bisher alles schöngeredet, Kritiker:innen als Vasallen der ausländischen Mächte und als Nestbeschmutzer bezeichnet. Und wenn es Anzeichen einer Revolte gab, haben sie sich auf ihre bis zu den Zähnen bewaffneten Revolutionsgardisten und paramilitärischen Basidjis gestützt.
Diese waren auch in der Lage, die letzten landesweiten Proteste im Keim zu ersticken. Doch seit fünf Wochen gibt es wieder Proteste, angeführt von den Frauen, die zum größten Teil der „Generation der 80er“ gehören. Diesmal scheint es, als wäre die Staatsmacht nicht in der Lage, mit den Protestierenden fertig zu werden, ja, es gibt nach vielen Berichten Ermüdungserscheinungen bei den sogenannten Sicherheitskräften. Sie haben zwar bisher über 200 Menschen getötet – darunter Dutzende aus der „Generation der 80er“ -, Tausende mit Schrottflinten und Kriegsmunition verletzt und Zehntausende verhaftet und zum Teil wieder freigelassen. Dennoch hören die Proteste nicht auf.
Warum? Wofür setzen die jungen Frauen und Männer ihre Leben ein?
Die zahlreichen Beobachter:innen und „Iran-Expert:innen“ im Ausland haben viel darüber gesprochen und geschrieben und ihrerseits dafür gesorgt, dass die Proteste im Iran noch mehr internationale Aufmerksamkeit erlangen. Doch wenige der Protestierenden haben sich bisher zu Wort gemeldet.
Ein Video, das derzeit im Internet die Runde macht, zeigt ein energievolles Mädchen, das für die „Generation der 80er“ spricht.
Das Iran Journal veröffentlicht fast den gesamten Text ihrer „Beichte“. Stellen, die für deutsche Leser:innen nicht verständlich sind oder einer langen Erklärung bedürften, wurden nicht übersetzt. Die weggelassenen Stellen ändern nichts an der Aussage der Protagonistin:
„Ich bin eine aus der ‚Generation der 80er‘. Ein Mädchen, das ihr (die Machthaber und Verantwortlichen) als Kind bezeichnet. Keiner von Euch hat mich aber bisher gefragt: Kind, was ist dein Problem? Was willst du? Warum revoltierst du? Warum zettelst du so viel, wie ihr es nennt, Unruhe an?
Bisher habt ihr mich nicht gefragt, aber ich sage es euch. Unser Problem ist jener alte Mann, der in der U-Bahn Orakelzettel verkauft, damit er zwei Millionen Tuman (etwa 70 Euro), was für euch ja nichts ist, verdient, um die Kosten für die Operation seiner Tochter decken zu können. Jener alte Mann, der zu euch gekommen ist, aber keine Unterstützung erhalten hat.
Mein Problem ist jene alte Frau, die aus den Mülltonnen ihre täglichen Lebensmittel besorgt, jene Frau, die keine Kleider für ihre Kinder kaufen kann. Mein Problem sind alte und junge Männer, die von morgens bis abends arbeiten, aber deren Einnahmen nicht ausreichen, um ihren Lebensunterhalt zu decken, und die sich gegenüber ihren Frauen und Kindern schämen müssen. Das ist mein Problem, unser Problem.
Der Hijab ist nur eines unserer Probleme. Wenn man den Menschen in anderen Ländern sagen würde: In unserem Land ist es erlaubt, ein bisschen Haare zu zeigen, wenn aber die Haare länger werden und mehr zu sehen ist, werden wir dafür getötet, würden sie uns auslachen.
Ihr sagt, die Polizei sei Unterstützer und Diener der Bevölkerung. Warum habe ich dann Angst vor ihr? Ihr sagt, ihr sucht den Dialog (Justizchef Mohseni Ejehi hatte gesagt, man solle mit den Kritiker:innen und Protestierenden in Dialog treten – d. R.)? Ich trete hiermit mit euch in Dialog, aber ich muss eine Maske tragen, damit ich nicht von euch verhaftet werde.
Meine Mutter hat in letzter Zeit sehr viel geweint für die Jugend ihres Landes, sie hat Angst, dass auch ich getötet werde. Das ist unser Problem.
Warum ist der ölreiche Süden unseres Landes, ja das gesamte Land so arm? Ihr verkauft doch das Öl, ihr sagt, wir haben ein reiches Land, ja, das habt ihr in den Schulbüchern in unsere Köpfe hinein gehämmert. Warum sind wir dann so arm? Warum gebt ihr die Erdöleinnahmen nicht für die Iraner:innen aus? Warum müssen eure Kinder in Ländern leben, die wie ihr sagt, uns sanktioniert haben? Warum dürfen sie dort frei leben, alles tun, was sie wollen, homosexuell sein, auch nackt herumlaufen, und wir nicht?
Wir sagen nicht, dass wir nackt herumlaufen wollen, wir sagen, setzt uns nicht unter Druck.
Unser Problem ist, dass eine Frau ihren Körper verkaufen muss, damit sie den Lebensunterhalt für sich und ihren kranken Mann verdienen kann.
Unser Problem ist, dass ein Freiheitsprediger, hier in Teheran, die Kinder, die zu ihm gehen, ob Jungen oder Mädchen, sexuell missbraucht.
Wir haben nach dem Gesetz ein Recht auf Protest. Warum dürfen wir nicht von diesem Recht Gebrauch machen? Warum schlagt ihr die Proteste der Bevölkerung nieder?
Die Polizisten fassen dabei die Mädchen überall an, an Stellen, die ich hier (vor Scham) nicht nennen kann.
Ihr sagt, ich sei ein Kind? Ich habe mehr Verstand als ihr.
Unser Problem ist, dass ihr in den Jahren der Corona-Pandemie aus den Ländern, die uns nach euren Aussagen sanktioniert haben, Tränengas importiert habt statt Impfstoffe. Warum? So viele Menschen sind (an Corona) gestorben, weshalb?
Unser Problem ist, dass ihr uns unterdrückt, uns tötet, sobald wir etwas kritisieren wollen.
Mahsa Amini habt ihr getötet und behauptet, sie sei herzkrank gewesen. Nein, ihr habt sie getötet. Alle Menschen, außer den Söldnern des Regimes, wissen, dass ihr lügt.
Unser Problem ist, dass unsere Eltern von Morgen bis in die Nacht hinein schuften müssen und wir fast ohne Eltern aufwachsen.
Unser Problem ist, dass wir für eine Packung Milch, die wir für 1.000 Tuman gekauft haben, plötzlich 7.000 Tuman bezahlen müssen.
Wir leben im Iran unter schwierigsten Bedingungen, aber eure Kinder leben in den Ländern, die, wie ihr sagt, uns sanktioniert haben.
Unser Problem ist, dass ihr uns als Söldner Amerikas und Israels bezeichnet.
Unser Problem ist nicht nur der Hijab, sagt das nicht!
Unser Problem sind auch enorme Unterschlagungen und Veruntreuungen und dass die Verursacher der Unterschlagungen frei sind, aber die Kritiker, die Eliten unseres Landes, Regisseure, Schriftsteller im Gefängnis sitzen.“
Übersetzt und überarbeitet von Farhad Payar.
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