Der Gottesstaat und die Generation Z
Die Mehrheit der Iraner*innen will die Präsidentenwahl am 18. Juni boykottieren. Das meldete am Anfang Mai selbst das staatliche iranische Fernsehen. Und diese Zahl bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung. Unter jungen Wähler*innen liegt sie noch viel höher: Mehr als zwei Drittel von ihnen wollen den Urnen fernbleiben. Ali Sadrzadeh hat mit einigen von ihnen gesprochen.
صبح صادق-, der „Wahre Morgen“: So heißt eine philosophisch-politische Wochenzeitschrift der iranischen Revolutionsgarden. Die Garde ist ja bekanntlich auch ein Medienimperium, das nicht nur die Medienlandschaft des Iran beherrscht, sondern in zehn weiteren Sprachen und allen Formaten für die übrige Welt Medienerzeugnisse produziert.
Dass diese omnipräsente Armee ihr theoretisches Organ „Wahrer Morgen“ nennt, hat nicht nur mit der Vieldeutigkeit dieses Begriffs zu tun. Es zeigt auch den Totalanspruch der Garden: Ein echter Muslim muss den wahren Morgen unbedingt erkennen können, denn sowohl beim täglichen Frühgebet wie auch beim Fastenbeginn im Ramadan ist es zwingend nötig, den echten Tagesbeginn vom falschen zu unterscheiden. Religiös gesehen ist der „Wahre Morgen“ also ein fester Begriff.
Da auch im alltäglichen Leben stets Irreführung drohe, fühlen sich die Herausgeber des „Wahren Morgens“ Klarheit und Konkretheit verpflichtet: So steht es jedenfalls im Impressum der Zeitschrift. Und in der Tat bemühen sich die Autoren oft um eine direkte und klare Sprache, sie vermeiden die übliche Propaganda und nennen sogar die Probleme des Landes offen beim Namen.
Die verlorenen Kinder
Ein kurzer Leitartikel, den die Zeitschrift am 7. März veröffentlichte, war sogar so spektakulär offen, dass er in diesen Tagen kurz vor der Präsidentenwahl immer noch für Aufregung sorgt. „Generation Z und die Zukunft des Irans“ lautete seine Überschrift.
In seinen ersten Zeilen liest man eine knappe, nüchterne Information, jedoch verbunden mit Sorgen: Unter „Generation Z“ verstünden amerikanische Soziologen die zwischen Mitte der 1990er Jahre und 2015 Geborenen. Diese Jahrgänge seien internetaffin und pluralistisch, sie interessierten sich mehr für Klimaveränderung und Menschenrechte als für Parteipolitik. Die US-Wissenschaftler seien in Sorge, denn die Zukunft Amerikas hänge von dieser Generation ab. Kurz, informativ und tendenziös – so der Blick ins Feindesland.
Dann kehrt der Autor nach Hause zurück und stellt fest: Im Iran habe man sich kaum mit dieser Generation beschäftigt und teile die Geburtenjahrgänge nach Dekaden. Das Führen und die Kontrolle derjenigen, die in den ersten zwanzig Jahren nach der Revolution geboren wurden, sei zwar schwierig, aber machbar gewesen. Doch die Generation Z – die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen – sei nicht mehr kontrollierbar: Man nenne sie die Protestgeneration.
Und die Gründe dafür seien sattsam bekannt:
- Sie wüchsen als Einzelkinder oder höchstens mit einem Geschwisterkind auf.
- Sie befänden sich mental und geistig in einer anderen Welt.
- Sie seien die meiste Zeit in den sozialen Netzwerken unterwegs, die vom Feind im Westen kontrolliert würden.
- Sie interessierten sich nicht für die im Iran gängigen politischen Kategorien wie „Prinzipientreue“ oder „Reformer“.
- Sie seien pluralistisch eingestellt.
Kurzum: Sie hätten sich zu einer Bedrohung für die politische, kulturelle und sogar die religiöse Ordnung des Landes entwickelt. Und die rapide Technologieentwicklung vergrößere praktisch sekündlich den Graben zwischen den Generationen, denn diese Jugend mache die Älteren für ihre Misere verantwortlich. Sie könnte eines Tages zu Taten schreiten, die das gesamte System aus den Angeln heben. „Vergessen wir nicht, dass diese Generation ihre überwiegende Zeit in jenen sozialen Netzwerken verbringt, die der amerikanische Feind produziert!“: Mit dieser erhellenden Warnung endet der Leitartikel des „Wahren Morgens“.
Fast drei Monate sind seit dem Erscheinen dieses Textes vergangen. Seitdem haben sich Dutzende Soziologen, etliche Prediger, zahlreiche TV-Talkshows und Hunderte Journalisten die Generation Z vorgenommen. Und bei allen geht es auch darum, ob diese Generation überhaupt an die bevorstehende Präsidentenwahl denke. Eine wichtige, für die islamische Republik lebenswichtige Frage, denn die Hälfte der über 80 Millionen Iraner*innen sind unter dreißig, gehören also zur „Generation Z“.
Mit einigen von ihnen hat das Iran Journal deshalb über die Präsidentenwahl gesprochen.
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