Protestierende im Iran sind enttäuscht vom Westen
Die in Teheran lebende politische Aktivistin Afra* hat ihre eigene Empfindung und die der Menschen in ihrer Umgebung für das Iran Journal beschrieben.
„Die Menschen im Iran wurden allein gelassen.“ „Nachts an die Jugendlichen im Gefängnis zu denken, raubt mir den Schlaf.“ „Morgens habe ich Angst aufzuwachen, weil ich weiß, dass ich meinen Tag mit Nachrichten von Verhaftungen, Hinrichtungen, Entführungen oder Erblindungen der Jugend meiner Heimat beginnen werde.“ „Vielleicht bin ich morgen an der Reihe, zu sterben – und auch wenn nicht morgen, dann bald.“ „Wir waren froh, dass die Welt dieses Mal unsere Stimme gehört hat.“ „Die Menschen glauben die leeren Versprechungen und verbalen Unterstützungen der westlichen Politiker:innen und Regierungen kaum.“ „Bald wird sich die Islamische Republik mit anderen Ländern im Geheimen an den Verhandlungstisch setzen und diese mit vorteilhaften Versprechungen beziehungsweise Drohungen zum Schweigen bringen – trotz des groß angelegten Gemetzels.“ „Die Hände der westlichen und östlichen Regierungen sind mit dem Blut der iranischen Jugend befleckt.“ „Niemand aus dem Ausland wird uns zur Seite springen; das Überleben der Islamischen Republik liegt im Interesse des Westens und Ostens.“ „Wir sind die Menschen im Nahen Osten. In den Augen des Westens sind Angst, Folter und schreckliche Tode ein Teil unseres Schicksals.“
Diese und ähnliche Sätze höre ich heutzutage oft von alten und jungen Menschen in meiner Umgebung, im Klassenzimmer, auf der Straße und bei Familientreffen – von Menschen, die jahrzehntelang unter der Herrschaft der Islamischen Republik gelebt haben und sich nun seit acht Monaten trotz Morden und brutaler Repressionen des iranischen Regimes mit Kundgebungen und zivilem Ungehorsam gegen dieses Regime auflehnen.
In all den Jahren haben viele Iraner:innen – sowohl im Inland als auch diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten – auf unterschiedliche Art und Weise gegen das islamistische Regime Widerstand geleistet und wurden dafür verhaftet, gefoltert oder getötet. Die Zahl dieser Menschen hat sich kontinuierlich vergrößert und zieht sich heute quer durch verschiedene soziale Schichten. In den vergangenen 44 Jahren hat jedoch keine Protestbewegung so lange angehalten wie die der vergangenen Monate. Die Mehrheit der Iraner:innen war noch nie so entschlossen, das islamische Regime zu stürzen.
In all den Jahren unterdrückte die Islamische Republik Proteste mit Brutalität, Waffen, Morden, Entführungen und Verbrechen in Gefängnissen. Einen anderen Teil der Bevölkerung trickste sie mit der Hoffnung auf Reformen aus. Zugleich ist die Angst vor Gefängnis, Folter und Tod zurückgegangen, und heute lassen sich nicht mehr viele Menschen, insbesondere unter den Jugendlichen, davon abschrecken. Ihnen ist mittlerweile bewusst, dass ihre Rettung nur mit restloser Beseitigung der Islamischen Republik einhergeht. Sie haben sowohl das Leben als auch den Tod gewählt. Sie haben sich entschieden, frei zu leben, auch wenn sie das mit dem Leben bezahlen müssen.
Wir gehen auf die Straße, obwohl wir wissen, dass wir im Falle einer Verhaftung möglicherweise körperlich und psychisch gefoltert oder vergewaltigt, dass unsere leblosen Körper später in Ruinen außerhalb der Stadt gefunden werden. Wir gehen nach wie vor auf die Straße mit dem Bewusstsein, dass wir sehr wahrscheinlich unsere besten Jahre in den Kerkern verbringen müssen.
Der revolutionäre Aufstand des iranischen Volkes nach dem Tod von Jina Mahsa Amini erreichte über Twitter, Instagram und andere Soziale Medien die ganze Welt. Dem entsprang die Protestwelle „Frau, Leben, Freiheit“.
Es vergingen noch nicht einmal 24 Stunden seit dem Tod von Mahsa Amini, bis sich die Tötungsmaschinerie der Islamischen Republik in Bewegung setzte. Offiziell und inoffiziell wurden Frauen, Männer und Kinder auf der Straße oder in ihren Häusern verhaftet. Einige von ihnen wurden in Gefängnisse gebracht, andere in inoffiziellen Haftanstalten vergewaltigt und gefoltert, manche getötet. An Universitäten wurden Student:innen mit scharfer Munition beschossen. Mediziner:innen, die den Verwundeten halfen, wurden verhaftet und zum Teil getötet oder sie starben unter ungeklärten Umständen. Schulen wurden gestürmt und protestierende Schulkinder wurden getötet. Hunderte Menschen wurden auf der Straße getötet und viele verloren ihr Augenlicht.
Internationale Reaktionen
Als diese Nachrichten viral gingen, reagierten die Diplomat:innen anderer Länder. Berühmte und einflussreiche Frauen und Männer schnitten sich aus Solidarität mit dem Kampf der iranischen Frauen die Haare ab. Der französische Präsident Emmanuel Macron traf sich im Elysee-Palast mit der Tochter eines der Opfer sowie mehreren iranischen Oppositionellen und versprach ihnen Unterstützung. Großbritannien verurteilte die iranische Regierung wegen Menschenrechtsverletzungen. Kanada setzte mehrere hohe Beamten der Islamischen Republik auf die Terrorliste. Die US-Regierung hat wiederholt gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran protestiert. Dutzende Länder und unzählige Prominente weltweit unterstützten das iranische Volk. Gleichzeitig wurden Forderungen laut, die iranische Revolutionsgarde als terroristische Organisation zu listen. Das schwedische Parlament machte den ersten Schritt und stufte die Garde als Terrorgruppe ein.
Weltweit übernahmen Politiker:innen Patenschaft für Gefangene im Iran, denen das Recht auf unabhängigen Rechtsbeistand entzogen worden war. Die Islamische Republik wurde aus der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen ausgeschlossen. Der UN-Menschenrechtsrat beschloss auf Antrag Islands und Deutschlands die Einrichtung einer Untersuchungskommission für staatliche Menschenrechtsverletzungen im Iran. Diese Unterstützungen ermutigten die Protestierenden und sie setzten ihren Kampf mit noch mehr Intensität fort.
„Ich verfolgte die UN-Sitzung live und in ihrer Gesamtheit. Mir flossen Freudentränen aus den Augen. Die Welt hat unsere Stimme gehört!“ „Der UN-Menschenrechtsrat wird uns helfen.“ „Diesmal wird die Islamische Republik nicht mehr so einfach die Menschen umbringen können; die ganze Welt ist auf der Seite des iranischen Volkes.“ „Die Islamische Republik ist völlig isoliert und schwach und wird vollständig verschwinden“. „Wir werden mit der Unterstützung von Großmächten gegen Khamenei und die Revolutionsgarde kämpfen.“
Das sind Sätze, die wir an den Schulen, den Universitäten, auf der Straße und dem Markt hörten; Sätze, die Hoffnung auf baldige Freiheit machten. Sätze von Menschen, die zwar trauerten und müde waren, jedoch tief in ihren Herzen einen Hoffnungsschimmer trugen.
Zurück zur „Alltagsroutine“?
Parallel zu dieser Hoffnung auf eine bessere Zukunft versuchte das Regime mit allen Mitteln, zu „normalen“ Umständen zurückzukehren – ein blutiger Versuch seitens der verwundeten Islamisten. Immer noch gehen die Verhaftungen weiter und die Tötungsmaschinerie hat Fahrt aufgenommen. Bisher wurden sieben Demonstranten hingerichtet. Dutzende weitere werden der „Korruption auf Erden“ beschuldigt, die im Iran mit dem Tod bestraft wird. Die Todesurteile wurden hinter verschlossenen Gerichtstüren verhängt, wo die Richter, Staatsanwälte und Pflichtverteidiger jeden Demonstranten als Feind betrachteten – Gerichtsverfahren ohne Recht auf unabhängige Verteidigung und ohne restlose Klärung aller Umstände.
Bislang haben die politischen Pat:innen in Deutschland und anderen westlichen Ländern keine nennenswerte Reaktion auf diese staatliche Morde gezeigt. Einige europäische Regierungen und Parlamente versuchen nun, ihre Gleichgültigkeit zu rechtfertigen. Gleichzeitig werden iranische Regierungsvertreter:innen offiziell zu internationalen politischen Sitzungen und Treffen eingeladen. Der Wiener Atomdeal von 2015 wurde noch nicht aufgegeben. Die Welt wartet auf dessen Wiederbelebung, auf Händeschütteln mit den Vertretern der Islamischen Republik, auf gemeinsame Fotos. Würden mit den Tätern der Terroranschläge von Nizza und Berlin auch so leichtfertig lächelnd Fotos gemacht?
Nach wie vor reisen viele Funktionäre der Islamischen Republik in den Westen. Ihre Angehörigen leben in der Sicherheit und dem Frieden der westlichen Länder – insbesondere in Kanada. Der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, sagte über die Listung der Revolutionsgarde der Islamischen Republik Iran als Terrororganisation: „Sie können mich nicht Terrorist nennen, nur weil Sie mich nicht leiden können.“ Als würden wir der Garde zu Unrecht Terror vorwerfen; als wären wir die Schuldigen.
Auf der anderen Seite wurde der Untersuchungsausschuss zur Erfassung der staatlichen Menschenrechtsverletzungen im Iran nicht gebildet. Außerdem kündigte der Vorsitzende des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen an, dass der Iran 2023 den Vorsitz des Sozialforums des UN-Menschenrechtsrats übernehmen wird! Westliche Regierungen reagieren nicht einmal zugunsten ihrer Bürger:innen, die im Iran inhaftiert sind, hingerichtet wurden oder von Hinrichtung bedroht sind. Bisher hat kein Land aus Protest seinen Botschafter aus dem Iran zurückgerufen.
Es scheint so, als ob der Westen und der Osten darauf warteten, dass die Situation wieder zu den Zuständen vor der Ermordung von Jina Mahsa Amini zurückkehrt. Sie wünschen, dass sich das iranische Volk wieder beruhigt.
Ja, die Menschen im Iran wurden wieder allein gelassen. Diese Tatsache lässt sich nicht leugnen. Nichtsdestotrotz setzen wir unseren Weg fort. Eine Rückkehr zur „Normalität“ ist für uns diesmal keine Option. Oder mit den Worten eines Taxifahrers: „Unsere Seelen sind schon gestorben, wir opfern unsere Körper für die Freiheit.“♦
*Afra ist ein Pseudonym, um die Autorin zu schützen.
Um die Basisförderung des Iran Journal zu sichern, benötigen wir noch etwa 190 Unterstützer:innen! Werden Sie Fördermitglied der Redaktion, entweder direkt (hier klicken) oder durch unsere Crowdfunding-Kampagne (hier klicken).