Was kann er, was will er? Der iranische Präsident und Mahsas Jahrestag
Zum zweiten Jahrestag der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste widmet sich Iran Journal in einem Dossier der Frage, wie diese Bewegung die gesellschaftlichen und politischen Strukturen des Iran verändert hat.
Von Ali Sadrzadeh
Waren es nur wertlose Wahlkampfsprüche? Wenn es um Frauen geht, bewegt sich Masoud Pezeshkian immer noch in den Sphären der Symbolik. Die harte Realität bestimmen die Anderen.
Das persische Wort Nefle (نفله) könnte man annähernd mit „Verendete“, „Krepierte“ oder „Verreckte“ übersetzen. Auch einen nutz- bzw. charakterlosen Menschen bezeichnet man umgangssprachlich als Nefle. Das Wort ist vulgär, obszön, es gehört zur Gossensprache. Ende August saßen in einem Kulturprogramm des iranischen Fernsehens der Soziologe Azad Armaki und sein Chef Ali Entezari, Dekan einer soziologischen Fakultät, zusammen. Sie sollten über die „Unruhen“ vor zwei Jahren diskutieren. „Unruhe“ ist eine offizielle euphemistische Umschreibung all dessen, was nach dem Tod von Mahsa Amini entstand, jener historischen Bewegung, die unter der beeindruckenden Parole „Frau, Leben, Freiheit“ in die Geschichte einging und die Islamische Republik irreversibel veränderte. Die Wahl Masud Pezeshkian ist nur eine dieser Veränderungen, manche sagen, die kleinste.
Der Fakultätschef begann mit einer Motivaufzählung der „Unruhen“, und schon in seinem ersten Satz fiel das Wort Nefle, also das „verreckte, verendete, krepierte Mädchen“, das zugleich Nutz- und Charakterlosigkeit assoziieren sollte. „Väterlich, ja fürsorglich ist das Verhalten unseres Systems mit den Unruhestiftern gewesen“, sagte Entezari weiter. Er war nur wenige Monate nach Mahsas gewaltsamem Tod und dem Beginn einer Säuberungswelle an den Hochschulen zu seinem Chefposten gekommen. Mit seiner provokativen Wortwahl stellte der Chefsoziologe allerdings vieles klar – nicht nur seine eigene Unfähigkeit, zu begreifen, wie Mahsas Tod die Gesellschaft verändert, ja erschüttert hat. Mit seinem Auftritt offenbarte er zugleich, welche Geisteshaltung in den Amtsstuben der „Republik“ herrscht, wenn dort über „Frau, Leben Freiheit“ nachgedacht, geredet und gehandelt wird.
Pezeshkians prägnante Entscheidung
Dieser Chefsoziologe ist ein markantes Beispiel dafür, was sich nach Mahsas Tod im offiziellen Kulturbereich des Landes vollzogen hat; mit anderen Worten: welche Gestalten zu Macht und Würden gekommen sind. Wenn ein „Geisteswissenschaftler“ des Regimes über Mahsas Tod so denke, wie gingen dann die Schergen in den Folterverliesen mit jenen um, die in den Tagen danach wegen diesem Tod in den Gefängnissen landeten? So und ähnlich kommentierten viele in den sozialen Netzwerken unter diesem Ausschnitt aus der TV-Debatte, die tags darauf millionenfach in den sozialen Medien zu sehen war.
Die Aufregung war so groß, dass Masud Pezeshkian reagieren musste. Während seines Wahlkampfes hatte er wiederholt den Fall Mahsa angesprochen und publikumswirksam den Umgang der Sittenwächter damit kritisiert. Entezari verlor wenige Tage später seinen Job, er war nicht mehr zu halten. Kleinlaut entschuldigte er sich danach zwar irgendwo, doch es war zu spät, der Fakultätschef wurde versetzt, sein Vize, der aus dem selben politischen Stall stammt, übernahm den Posten. Diese Versetzung war eine der prägnanten symbolischen Entscheidungen, die Pezeshkian seit seiner Wahl getroffen hat.
Von Licht und Finsternis
Doch an der Gesamtatmosphäre an den iranischen Hochschulen ändert diese spektakuläre Versetzung nichts. Weiterhin bestimmen Betonköpfe wie Entezari und seinesgleichen die Kulturszene des Landes. Ob der tiefgläubige Pezeshkian etwas Grundsätzliches daran ändern kann, ob er das will, bleibt weiterhin abzuwarten.
Dafür aber ist der Chirurg Pezeshkian ein versierter Redner, ein vorzüglicher Interpret religiöser Texte, der viel von Gestik und Symbolpolitik versteht.
– طرح نور – „Aktion des Lichts“ – nennen die Sittenwächter ihr gewaltsames, ja, sehr erniedrigendes Vorgehen bei der Durchsetzung der Hijab-Gesetze. Es hört sich an wie eine pure Provokation, eine vollkommene Umkehrung der Sprache, wenn der Zwang, unter einem schwarzem Tschador verschwinden zu müssen, als Lichtaktion bezeichnet wird. Dieser eigenartige Umgang mit Begriffen, Bildern und Ideen war aber von Anfang an die Grundlage der Propaganda und Politik dieses Staatsgebildes. Sehr publikumswirksam sprach dagegen Pezeshkian von einer „Aktion der Finsternis“, als er noch im Wahlkampf war. Doch Licht hin, Finsternis her: Das Hijab-Gesetz bleibe unvermindert bestehen, das sei Gottesbefehl, alle zuständigen Organe seien aufgefordert, es zu befolgen und durchzusetzen, stellte Mowahedi Azad, der iranische Generalstaatsanwalt, am vergangenen Mittwoch erneut klar.
Beispiellose Frauenpräsenz
Pezeshkian setzte seine Symbolpolitik schon in der Zusammenstellung seines Kabinetts vor: Er ernannte Shina Ansari zur Leiterin der Umweltbehörde, eine ausgewiesene Expertin, die weiß, vor welcher Katastrophe das Land steht. Bereits am Tag ihrer Amtsübernahme entwarf sie deren schreckliches Bild: 380 Städte und 9.000 Dörfer des Landes sackten kontinuierlich ab, oft bis zu 20 cm jährlich, weil in den letzten Dekaden ein unglaublicher Raubbau am Grundwasser betrieben worden sei. Man brauche eine grundsätzliche Entscheidung, die Gesamtpolitik in allen Bereichen zu ändern; nur so könne die Katastrophe abgewendet werden. Dazu brauche man die Zustimmung der höchsten Stelle der Herrschaft (sprich: Ali Khameneis), so Ansari weiter. Doch Khamenei hat momentan andere Sorgen, andere Pläne, denn in der gesamten Region brodelt es, im Horizont ist ein Großkonflikt mit Israel immer noch in Sicht.
Pezeshkian ernannte die redegewandte Fatemeh Mohajerani zu seiner Regierungssprecherin. Das ist ebenfalls ein Novum seit Bestehen der Islamischen Republik. Und sie verkündete am ersten Tag gegenüber Journalisten, sie wolle und werde keine Floskeln verbreiten, spreche künftig konkret, direkt und erst dann, wenn es tatsächlich etwas zu verkünden gebe. Seitdem schweigt sie.
Der Präsident hat auch eine Vizepräsidentin. Und bei seiner ersten Auslandsreise in das Nachbarland Irak nahm er seine neue Verkehrsministerin mit – ebenfalls eine demonstrative Geste, um zu zeigen, dass er ein anderes Frauenverständnis hat. Bei dieser Reise sah man die Ministerin zwar lächelnd in die Kameras blicken, doch stets äußerst sittsam gekleidet.
Diese relativ hohe Frauenpräsenz ist zwar für die Geschichte der „Republik“ beispiellos, doch an den realen Machtverhältnissen wird, kann sie nichts ändern.
Die Panne und die Wahrheit
Zwei Ereignisse der letzten Tage machten die Grenzen von Pezeshkians Beinfreiheit deutlich: eine peinliche Panne und eine handfeste Machtdemonstration. Zunächst die Peinlichkeit, die eine ganze Wahrheit offenbart: Am vergangenen Dienstag stand der Präsident am Teheraner Flughafen neben seinem startbereiten Flugzeug Richtung Irak. An seiner Seite sah man Mohsen Ghomi, Khameneis außenpolitischen Berater. Das Bild soll eine offene Machtdemonstration vermitteln. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass immer, wenn ein Präsident eine Auslandsreise antritt, Khameneis Experte für Außenpolitik neben ihm stehen muss, damit jeder und jede im Lande weiß, in wessen Auftrag der Präsident das Land verlässt. Auch und gerade bei Pezeshkian darf es keine Ausnahme geben.
Vor dem Abflug gab der Präsident dem staatlichen TV ein kurzes Live-Interview zu seiner Reise. Danach fragte er Khameneis Vertreter: „Wie fanden Sie es? So schlecht war ich doch nicht?“. Und fügte hinzu: „Man zwingt mich zu einer Diplomatie, die ich nicht kenne.“
Die zufällige Offenlegung der Wahrheit
Er sprach die Wahrheit aus und merkte nicht, dass sein Mikrofon offen war und das staatliche Fernsehen das Ganze ausgestrahlt hatte. Am Tag nach seinem Wahlsieg hatte er seinem Wahlkampfteam erzählt: „Dauernd sagen sie mir, achte das Protokoll, sitze so, gehe so – so etwas ändert mich nicht.“
حرفهای مسعود پزشکیان، رئیس جمهور ایران در مراسم سخنرانی زنده تلویزیونی که درست پیش از نخستین سفر خارجیاش به عراق تدارک دیده شده بود، حاشیهساز شد.
آقای پزشکیان در این نشست بدون توجه به آنکه میکروفون مقابلش روشن است رو به محسن قمی، معاون امور بینالملل رهبر جمهوری اسلامی گفت… pic.twitter.com/tP0nzK7lka
— RadioFarda|راديو فردا (@RadioFarda_) September 11, 2024
Und nun zum Handfesten: In Bagdad angekommen, sagte er einem Reporter, er strebe nicht nur bessere Beziehung zu den Nachbarstaaten an, auch zu Europa wolle er das Verhältnis verbessern. Fast zur gleichen Zeit traten US-Außenminister Anthony Blinken und sein britischer Kollege David Lammy in London vor die Presse und verkündeten, Moskau habe Kurzstreckenwaffen vom Iran bekommen. Als ob sie den ahnungslosen Pezeshkian informieren wollten, was in seinem Land passiert, fügte Blinken hinzu: „Wir haben den Iran im Privaten gewarnt, dass dieser Schritt eine dramatische Eskalation ist.“ Tags darauf belegten Frankreich, Deutschland und Großbritannien Iran Air, die wichtigste iranische Fluggesellschaft, mit Sanktionen. Soweit die Annäherung an Europa.
Putin in seinem Element
Noch war Pezeshkian mit seiner Visite in Bagdad nicht fertig, da war Khameneis Mann im nationalen Sicherheitsrat, Ali Akbar Ahmadian, längst bei Wladimir Putin. Es war ein deutliches Signal an den gesamten Westen, wofür sich Khamenei entschieden hatte. Und Putin verkündete zufrieden: „Ich möchte darauf hinweisen, dass die freundschaftlichen russisch-iranischen Beziehungen in den letzten Jahren zusätzlich an Dynamik gewonnen haben. Dies ist vor allem auf die Unterstützung des Obersten Führers der Islamischen Republik, Ayatollah Seyyed Ali Khamenei, zurückzuführen. Ich bitte Sie, ihm meine besten und herzlichsten Wünsche zu übermitteln.“
Dass der iranische Präsident in der Außenpolitik kaum etwas zu sagen hat, war stets ein offenes Geheimnis. Unfreiwillig gestand er es ja nun öffentlich. Was Innenpolitik angeht, warten viele gespannt, ob er und was er am Jahrestag von Mahsas Ermordung sagen oder tun kann bzw. will. Mahsas Vater hat angekündigt, er würde gern an ihrem Grab eine Gedenkzeremonie veranstalten, doch er glaube nicht, dass „sie“ es erlauben. Wer diese „sie“ auch sein mögen; im Vorfeld haben sie ganze Arbeit geleistet, nicht nur an Mahsas Geburtsort, sondern im ganzen Land. In fast jedem Ort sind all jene verhaftet oder verwarnt worden, die sich an diesem Tag möglicherweise irgendwie regen würden. Und „sie“ wissen, was sie tun. Am Donnerstag sagte Ahmad Rezae Radan, Kommandant der Ordnungskräfte: „Nehmen sie uns den Tschador weg, verlieren wir unsere Flagge.“ Recht hat er: Der Hijab ist Sinnbild, Signum, ja, Identität der Islamischen Republik.
Fotos: Social Media / Tabnak
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