Das Rätsel, ein Iraner zu sein. 12 bleibende Tage.
Nach zwölf Tagen Krieg gelingt der iranischen Diaspora ein kurzer Austausch mit Angehörigen im Land. Die Gespräche kreisen um Bomben, Repression – und um Daniela Sepehri, die sich gegen den Krieg ausspricht. Ist das naiv? Ambivalente Gefühle, eine tiefe kulturelle Zerrissenheit – und ein Regime, das nun plötzlich von „Nation“ spricht, nicht mehr von der „islamischen Republik“.
Von: Ali Sadrzadeh
Sehr erleichtert und dankbar waren wir. Ungewiss war, ob wir an diesem Freitagnachmittag nur eine kurze Atempause des Krieges erleben oder sein Ende. Wacklig und instabil war die Internetverbindung, aber sie war da und das war ein unschätzbares Geschenk. Nach zwölftägigem Bombardement und internetloser Zeit hatten wir uns in unseren wöchentlichen Videotalks wieder. Endlich hörten wir die Stimmen unserer Lieben, aus Shiraz, Isfahan, Teheran und Karaj. Sie erreichten uns in Frankfurt, Kopenhagen, Los Angeles und Rom. Die iranische Diaspora ist im wörtlichen Sinne global. Die Verbindung könnte in der nächsten Sekunde verschwinden, die Ungewissheit, die Dunkelheit zurückkehren. Die Diaspora hatte an diesem Nachmittag zu schweigen. Es war nicht die Zeit des üblichen Geplauders und Geschwätz, sondern die der kurzen Fragen: „Wie geht es Euch, wo wart ihr, was habt ihr gemacht, was denkt ihr?“
Chirurgische Angriffe
Wortkarg, aber erstaunlich gelassen waren die Antworten. „Macht Euch keine Gedanken, sie wissen, was sie tun, die Angriffe sind chirurgisch“, sagte der Cousin aus Karaj. Seine Schadenfreude war unüberhörbar. „Ich bin aber trotzdem traurig: Sie töten, wen sie töten müssen, aber sie bombardieren auch unsere Infrastruktur“, sagte die Nichte aus Isfahan. Ihre Stadt war ein wichtiges Ziel, wegen der dortigen Atomanlagen. Der Verwandte aus Shiraz hatte wie immer Kommentaren und Analysen parat. Er verfolgt die Nachrichten und ist regelmäßiger Zuschauer von BBC Persian und dem Londoner Exil-Fernsehsender Iran International. Er ist skeptisch. Die Feuerpause werde nicht von Dauer sein, der Krieg komme über kurz oder lang wieder zurück, die Israelis seien noch nicht fertig, Anlässe und Alibis fänden sie genug, und- حضرت اقا – der große Herr selbst liefere ihnen genug Vorwand: „Ihr habt ihn doch gehört.“ Wenige Stunden zuvor hatte Khamenei in einem Video aus seinem Versteck einen großen Sieg über Israel und die USA verkündet und angedeutet, die Atomanlagen in Fordo seien in Takt, die US-Amerikaner hätten mit ihren Bomben nichts erreicht. Die Macht sei schwach und machtlos, „aber nur gegenüber dem Ausland“, sagt unserer Analytiker aus Shiraz, um hinzufügen: „Uns gegenüber werden sie bald ihre Stärke zeigen.“
Er sollte Recht behalten. Die Milizen haben die Straßen praktisch wieder erobert. Wie in einem Ausnahmezustand haben sie dort Überwachungsposten eingerichtet, kontrollieren Autos und Passanten, demonstrieren ihre Stärke. Mindestens 800 Dissidenten sind nach neuesten Informationen verhaftet worden, unter ihnen befinden sich religiöse Oberhäupter der Bahai und der Juden.
Der Videotalk hält jedoch nicht lange, oder nicht lange genug für uns. Die Iraner leben seit Wochen mit Stromknappheit und -unterbrechungen. Welcher Stadtteil zu welcher Zeit und wie lange ohne Strom auskommen muss, soll man der Webseite des Versorgers entnehmen, doch sicher sind diese Angaben keineswegs.
Ein Klick, eine neue Realität
Die Mail war sehr kurz. „Kennst Du sie? Wie viele Iranerinnen ist sie zwar sehr hübsch, aber naiv.“ Als Naivitätsbeweis hatte der alte Freund aus Zeiten der Studentenbewegung einen Link angehängt. Er führt zu einem Interview mit Daniela Sepehri im Tagesspiegel vom 26. Juni 2025, in dem sie sagt: „Trump und Netanjahu haben der Freiheitsbewegung geschadet“.
Daniela Sepehri ist Menschenrechtsaktivistin, sie schreibt Gastbeiträge für die taz, den Spiegel und andere Medien; sie ist sehr aktiv, deshalb kann man von ihr dieser Tage verständlicherweise auch viel lesen, hören und sehen; auf ihrer Webseite gibt die Deutschiranerin das Notwendige aus ihrer Biographie bekannt und schreibt am Ende: „Als Social Media Beraterin und Coach helfe ich Ihnen, Ihren Social Media Auftritt aufzubauen und zu optimieren. Als Journalistin schreibe ich für verschiedene Medien, dabei liegen meine Schwerpunkte auf den Themen Iran und Migration.“
Sind damit die Fragen meines alten Freundes beantwortet? Nein, mitnichten. All das hat der Freund, der Buchautor und Journalist ist und mit dem ich Anfang der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts im ASTA der Frankfurter Uni saß, inzwischen höchstwahrscheinlich selbst im Netz gefunden, dazu braucht er mich nicht. Er wollte etwas anderes wissen.
Die komplexe Welt der Iraner
Seine eigentliche Frage lautete, ob ich seine Feststellung teilen würde, dass Daniela naiv sei, weil sie den Krieg von Netanjahu und Trump für schädlich hält. Genauer gesagt: Er will wissen, ob ich auch so naiv bin wie Daniela. Die kurze Antwort wäre: Ja.
Der Grund, warum ich dem Freund dies nicht persönlich, sondern öffentlich schreibe, liegt darin, dass er ein sehr kompliziertes, sehr altes Thema anspricht, eines, das über die Tagesaktualität und das Realpolitische hinausgeht und auch andere interessieren könnte, sollte. Im Grunde spricht er ein Rätsel an, für das noch niemand eine befriedigende Lösung gefunden hat. Der Freund wundert sich darüber, dass eine engagierte Deutschiranerin, die vor allem über Migration und viel über „Frau, Leben, Freiheit“ schreibt, den Angriff gegen das Regime der Mullahs für schädlich hält. Doch Daniela ist nicht allein.
Die Liste der Personen und Persönlichkeiten aus der Opposition, die sich bis jetzt gegen diesen Krieg geäußert haben, ist sehr lang; nicht nur im Ausland, sondern sogar aus dem Teheraner Evin-Gefängnis hören wir ihre Stimmen, lesen ihre Zeilen. Auch Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi gehört dazu. Wie lang oder kurz diese Wortmeldungen auch sein mögen, sie alle betonen zugleich und zuerst, Khameneis Politik habe das Land dorthin gebracht, wo es sich nun befindet.
Trotz aller realpolitischen Klarheiten begegnen wir in allen diesen Statements, Kommentaren und Einschätzungen einer tiefen Zerrissenheit, einer Zwiespältigkeit und Unsicherheit, wem sie wieviel Schuld geben und wen sie mehr verurteilen sollen: Netanjahu, Trump oder Khamenei.
Die ewige Ambivalenz
Als ob sie sich in einem Spannungsfeld von gleichstarken, unheimlichen Polen befänden, aus dem kein Entrinnen ist. Hier die Religion, die sich brutal und barbarisch, ja befremdlich zeigt, dort ein Gefühl, mehr zu sein als nur Muslim. Das ist eine tiefe, alte Seelenkluft, die sich bei jedem neuen Konflikt immer wieder offenbart, und sie ist für die iranische Kultur wesentlich, fundamental.
Über diese Zerrissenheit und Zweideutigkeit haben Anthropologen, Ethnologen und Religionswissenschaftler vieles geschrieben und gedeutet. Die Tagebücher und Aufzeichnungen ausländischer Diplomaten sind voller Fragen über die Rätselhaftigkeit, wie sich die Iraner verhalten, benehmen.
Wie kann man ein Iraner sein, wunderte sich Montesquieu in seiner Novelle „Iranische Briefe“. Arthur de Gobineau lebte im 19. Jahrhundert als Gesandter Frankreichs jahrelang in Teheran. Er war ein hervorragender Geschichtenerzähler, seine Kurzgeschichten über und Erinnerungen an Persien hat er in den „Nouvelles asiatiques“ 1876 verfasst, darin spricht er von den Iranern als einem unlösbaren Rätsel. Innerlich seien sie im Grunde keine richtigen Muslime, aber äußerlich täten sie, als seien sie die besten Gläubigen, schrieb der französische Diplomat.
Die sunnitischen Rechtsgelehrten erfanden für die Schiiten den Begriff „ باطنیون“ , die „Innerlichen“. Im Inneren blieben sie Perser, äußerlich benähmen sie sich wie Verstellungskünstler, hin- und hergerissen zwischen ihrer vorislamischer Kultur und einem erfundenen Schiismus, voller Theatralik.
Ernest Renan, Sprachwissenschaftler und wegweisender französischer Orientalist sowie Autor mehrerer Werke über den Islam und den Nahen Osten, meinte bereits 1883, die Iraner versteckten sich mit Mühe in einer semitischen Kleidung – sie würden dieses Gewand irgendwann ablegen und sich ihrem nationalen Kleid zuwenden. Ob das Wunschdenken war oder Vorhersage, sei dahingestellt.
Khamenei entdeckt die iranische Nation
In dem zehnminütigen Video, das Ali Khamenei nach dem israelischen Angriff aus seinem Versteck sendete, sprach er 18 Mal von der iranischen Nation – und kein einziges Mal von der islamischen Republik.
Das ist eine politische Bombe, eine 180-Grad-Wende. Der Gründer dieser „Republik“, Ayatollah Ruhollah Khomeini, hatte einst per Fatwa alles Nationale für Frevel erklärt. Wenige Monate nach dem Sieg der Revolution bezeichnete er die politische Partei „Nationale Front“ als einen Haufen Gotteslästerer, die in der iranischen Politik nichts zu suchen hätten. Die Front-Anhänger hatten zuvor zu einer Demonstration gegen das قصاص Gesetz – „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – aufgerufen. Khomeini ließ die Front, die Organisation des legendären und von allen geachteten Premiers Mohammad Mossadegh, verbieten, obwohl er seinen Sieg auch bekannten Persönlichkeiten dieser Front verdankte. In der ersten Regierung der „Republik“ hatte sie drei wichtige Ministerposten.
Seine Revolution war aber eine islamische, die keineswegs auf Iran beschränkt war, sie sollte und musste in alle islamischen Länder exportiert werden. Alle nationalen Interessen, die diesem Export im Weg standen, waren zweitrangig, unwichtig. Alle Denkmäler, Rudimente oder sogar Schriften, die die vorislamische Kultur priesen, sollten für immer in Vergessenheit verschwinden. Schon in den ersten Wochen nach dem Sieg zog der berühmt-berüchtigte Scharfrichter Ayatollah Khalkhali mit einer Gruppe nach Persepolis, um das dortige „Götzenmonument“ zu zerstören. Buchstäblich in letzter Minute wurde er daran gehindert; sonst wäre das geschehen, was wir später im syrischen Palmyra erlebten.
Solange Khomeini am Leben war und soweit er konnte, widmete er sich dem Ziel des Revolutionsexports. Er legte ein massives Fundament an, es war aber sein Nachfolger Khamenei, der sein Werk mit aller Kraft ausbaute: Er kreierte die „Achse des Widerstands“, die zum Mittelpunkt seiner 36-jährigen Herrschaft wurde. Nun kehrt er nach der Niederlage um und spricht von der Nation – mit der Hoffnung, die Unzufriedenen hinter seinem Banner zu vereinen. Plötzlich liest, hört und sieht man viel über Heroen und Figuren aus der persischen, vorislamischen Mythologie: Iran habe eine Jahrtausende alte Kultur, in der Kapitulation nie vorkomme, entgegnete Khamenei Trump in seinem letzten Video. Diese Wende zum Nationalen ist nicht mehr als leere Propaganda, eine Maskerade, geboren aus dem Desaster, das er Sieg nennt.
Resilientes Regime
Auf dem Boden geschieht etwas anderes. Auf der Suche nach „zionistischen Spionen“ ist die Miliz mit dem beschäftigt, was sie in den letzten Dekaden immer tat. Und das Parlament, das in vielem Spionagetätigkeit sieht, beschließt neue Gesetze. Die Nutzung des amerikanischen Satelliten-Internetdienstes Starlink ist im Iran künftig nicht nur verboten. Verstöße können mit Geldstrafen, Peitschenhieben und bis zu zwei Jahren Gefängnis geahndet werden. Die Entscheidung muss noch vom Wächterrat gebilligt werden, das gilt als Formsache. Die Durchsuchung von Handys ist die Hauptbeschäftigung der Miliz.
Der 12-Tage-Krieg mit Israel und den USA ist nicht nur für Khamenei, sondern auch für die iranische Zivilgesellschaft eine Niederlage – um zu Daniela Sepehri zurückzukommen. Dieses Regime erweist sich als resilienter als gedacht, als gehofft. Weder Reformen noch Rebellion, nicht einmal der massive Angriff aus dem Ausland können Khameneis Herrschaft erschüttern. Viele meinen, dass sich auch nach seinem Tod nichts Weltbewegendes verändern werde. Die Diskussionen und Debatten über neue Formen des Widerstands haben längst begonnen.
Foto: Irna
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