Islamische Republik – Ja oder Nein

Die aktuellen Proteste im Iran haben deutlich gemacht, dass sich das Muster des politischen Kampfes im Iran geändert hat. Damit kommt der internationalen Gemeinschaft heute eine besondere und lebenserhaltende Aufgabe zu: nämlich die, die Ereignisse der nächsten Tage und Wochen im Iran sehr genau im Blick zu behalten. Ein Kommentar von Jamshid Barzegar, Leiter der persischen Redaktion der Deutschen Welle.
Bei den Protesten gegen die Rationierung und Verteuerung von Benzin im Iran zeichnet sich deutlicher als je zuvor eine politische Entwicklung ab: Die unzufriedenen Menschen in der Islamischen Republik haben ihre Hoffnung auf grundlegende Veränderungen des Systems aufgegeben und artikulieren statt dessen den Wunsch nach einem Umsturz.
Diese Entwicklung begann bereits bei den landesweiten Protesten im Januar 2018. Damals nahmen die Verantwortlichen und die Anhänger der Islamischen Republik Parolen wie „Weder Reformer noch Fundamentalisten“ oder „Wir sind Umstürzler“ noch nicht ernst und schrieben sie einer kleinen Gruppe der Protestierenden zu. Doch alle Ereignisse der vergangenen zwei Jahre – die permanenten, ja fast täglichen vereinzelten Proteste an verschiedenen Stellen des Landes, aber auch die Stimmung in den sozialen Netzwerken, die die einzige Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung von Iraner*innen bieten – waren Anzeichen dafür, dass es im Iran brodelt. Auch sie wurden von den Regierenden ignoriert. Nun liefern das Ausmaß der Proteste der vergangenen Tage und die dabei gerufenen Parolen einen weiteren Beweis dafür, dass sich das Muster des politischen Kampfes im Iran radikal geändert hat.
Die Ignoranz der Machthaber
Die Proteste der vergangenen zwei Jahre haben die politische Geographie und die gewohnte Ordnung der politischen Kräfte verändert. Die Formeln „Reformer versus Fundamentalisten“ oder „Gemäßigte gegen Radikale“ sind ersetzt worden durch „Befürworter und Gegner der Abschaffung der Islamischen Republik“.
Die sich über das ganze Land erstreckenden politischen Proteste der vergangenen zwei Jahre – laut dem Gouverneur von Teheran gab es allein in den letzten sechs Tagen Unruhen in 22 der insgesamt 31 Provinzen des Iran – zeigen, dass dieser Wandel sowohl auf gesellschaftlicher wie auch auf der Ebene der Macht stattgefunden hat. Je mehr die Menschen in ihrer Hoffnung auf eine Reformierung des Systems enttäuscht wurden, desto stärker wurde zum Konsens aller Fraktionen innerhalb des Machtgefüges, den zunehmenden Protesten entgegenzuwirken und sie zu unterdrücken.

Die aktuellen Proteste begannen friedlich!
Die aktuellen Proteste begannen friedlich, mündeten aber mit dem harten Eingreifen der Polizei in blutige Auseinandersetzungen!

 
Heute hat Irans Präsident Hassan Rouhani keine Hemmungen mehr, sich mit seinen gestrigen Rivalen gegen die Protestierenden, die er als „eine kleine, unbedeutende Gruppe“ bezeichnet, zu einigen. Die Moderaten um Rouhani, die die Regierung und das Parlament mit Parolen wie „Hoffnung auf Veränderung“ und „Mäßigung“ übernommen haben, sind bei ihrem Vorgehen gegen die Proteste sogar noch einen Schritt weiter als einst die Hardliner um den früheren Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad gegangen: Sie haben das Internet im Iran vollständig abgeschaltet. Die iranischen Bürger*innen befinden sich deshalb bis heute in einem Kommunikationsgefängnis.
Für oder gegen das System
Fast vier Jahrzehnte lang hat die Islamische Republik es geschafft, einen gesellschaftlichen Diskurs zu etablieren, in dem suggeriert wurde, dass die Lösung aller Probleme, dass jede gesellschaftliche und politische Veränderung nur im Rahmen des bestehenden Systems möglich wäre.
Der Ansatz, die Kämpfe und Widerstände sowohl zivilgesellschaftlicher Organisationen wie auch politischer Parteien in den Rahmen des herrschenden Systems zu assimilieren, hatte ein klares Ziel: nämlich selbst noch die radikalsten Bewegungen und Forderungen zu kontrollieren und letztlich in legale und von den Regierenden tolerierbare Forderungen umzuwandeln – wie etwa Reform statt Abschaffung des Systems. So wurden die Teilnahme an den unfreien und unfairen Wahlen, der Verzicht auf jegliche Art von Gewalt – sogar zur Selbstverteidigung -, und die Reformierung des Systems zu den wichtigsten Bestandteilen des politischen Handelns.
Doch allem Anschein nach hat dieses Muster durch das Auftreten einer neuen Generation und durch die innenpolitischen, regionalen und weltweiten Entwicklungen, aber auch durch die internationalen Sanktionen an Wirksamkeit verloren. Statt dessen sieht es so aus, als werde die Frage nach Erhalt oder Abschaffung der Islamischen Republik das Hauptmerkmal des neuen politischen Musters sein, nach dem die Akteure innerhalb und außerhalb des Iran handeln.
Damit gibt es heute in der Islamischen Republik keinen Mittelweg mehr. Die Menschen haben die Wahl, entweder für den Erhalt der Islamischen Republik in ihrer jetzigen Form zu sein oder für deren Sturz und die Errichtung eines neuen politischen Systems.
Die Erfahrungen der vergangenen vier Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Machthaber im Iran nicht gewillt sind, ihre Macht abzugeben oder mit der laizistischen Opposition zu teilen. Sie haben für den Erhalt ihres Systems zu jedem möglichen Instrument ergriffen – von Massenhinrichtungen in den 1980er Jahren bis zu Verhandlungen mit dem „großen Satan“ USA. Sollten sie sich in die Enge getrieben fühlen, werden sie nicht zimperlich sein.
Der internationalen Gemeinschaft kommt deshalb ab heute eine wichtige und entscheidende Aufgabe zu: der Schutz des Lebens der Menschen, die im Iran für ein besseres Leben auf die Straße gehen. Sie sollte genau hinschauen, was in den nächsten Wochen und Monaten in der Islamischen Republik passiert.
  JAMSHID BARZEGAR
Aus dem Persischen übertragen und überarbeitet von Farhad Payar
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