Buchbesprechung: Ein Dieb im Dunkeln starrt auf ein Gemälde
Hafez kennt man, auch Forough Farrokhsad und Nima Yushidj. Aber die persische Lyrik des 21. Jahrhunderts, die iranische Dichtung seit der Islamischen Revolution ist in deutscher Sprache kaum zugänglich. Das ändern die Herausgeber Ali Abdollahi und Kurt Scharf nun mit einer umfangreichen Anthologie.
Von Gerrit Wustmann
Hafez, Rumi, Firdausi, Saadi und einige weitere: Die großen Klassiker der persischen Lyrik sind aus der Weltliteratur nicht wegzudenken. Rumi zählt bis heute weltweit zu den meistgelesenen Dichtern, viele Gedichte von Hafez sind so zeitlos und aktuell, als wären sie gerade erst geschrieben worden. Sie alle liegen, seit der Pionierarbeit von Joseph von Hammer-Purgstall und Friedrich Rückert im 19. Jahrhundert und anderen in mehreren deutschen Übersetzungen vor.
Außerdem kennen wir zumindest die wichtigsten Stimmen der persischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, angefangen bei ihrem großen Erneuerer Nima Yushidj über den Befreiungsschlag der Verse von Forough Farrokhsad bis hin zu Meistern wie Sohrab Sepehri und seinem wegweisenden Langgedicht „Der Klang vom Gang des Wassers“.
Wir kennen sie, obwohl es gerade mal acht Anthologien mit moderner persischer Lyrik auf Deutsch gibt, vier davon herausgegeben und übersetzt von Kurt Scharf, der sich seit vierzig Jahren wie kein anderer dafür einsetzt, dass wir diese Texte lesen können, wenn wir des Persischen nicht mächtig sind.
Aber was ist mit aktuellen Gedichten aus Iran? Mit der Arbeit von Dichterinnen und Dichtern im 21. Jahrhundert? Das ist bislang eine Lücke. Es gibt eine Handvoll Bücher auf Deutsch, etwa von Seyyed Ali Salehi, von Shams Langeroodi, Vahe Armen und Garous Abdolmalekian, und es gibt die vor zwei Jahren erschienene Anthologie „VersSchmuggel Iran“, die ein kleines Schlaglicht auf die jüngere Generation wirft. Einen wirklich umfangreichen Blick gab es nicht – bis jetzt. Wieder mal ist es Kurt Scharf, diesmal gemeinsam mit dem Teheraner Dichter und Übersetzer Ali Abdollahi, der sich der Aufgabe angenommen hat.
Keine staatsnahe Dichtung
In der Anthologie „Ein Dieb im Dunkeln starrt auf ein Gemälde“ (der Titel ist ein Vers von Abdolmalekian) präsentieren die beiden Kenner mehr als achtzig
Dichterinnen und Dichter, die meisten davon machen sie zum allerersten Mal auf Deutsch zugänglich. Der älteste, Reza Baraheni, wurde 1935 in Tabriz geboren, der jüngste, Mani Chahkandinejad, ist Jahrgang 1994. Nicht alle Leben in Iran. Einige schreiben im Exil, zum Beispiel Mahmood Falaki (Hamburg) oder Shabnam Azar (London), andere sind nach Jahren im Exil nach Iran zurückgekehrt. Und da sich der persische Sprachraum nicht auf die Landesgrenzen des heutigen Iran beschränkt, werden auch Dichterinnen und Dichter aus Afghanistan und Tadschikistan berücksichtigt.
Ein wichtiges Auswahlkriterium war dabei, so schreibt Ali Abdollahi in seinem Nachwort, einem langen Essay über die Geschichte der persischen Lyrik, dass es sich um unabhängige Stimmen handelt. Denn, so führt er aus, es gebe heute in Iran auch eine rege Szene staatsnaher Dichtung. Diese sei zwar nicht immer, aber sehr oft, wenig originell, ergehe sich in Propaganda und Herrscherlobpreisungen und erhalte im Gegenzug stattliche Honorare sowie staatliche Unterstützung bei der Verbreitung ihrer Bücher, die Texte seien oft in Schulbüchern zu finden, ganz im Gegensatz zur unabhängigen Dichtung, die sehr oft politisch und von oppositionellen Untertönen geprägt ist (was man beim Lesen der Sammlung immer wieder merkt).
Was man auch merkt: Die stimmliche, formale und thematische Vielfalt ist groß. Es gibt freie Verse ebenso wie das Spiel mit den klassischen Formen Ghazal und Rubaii, es gibt gereimte Verse, es gibt gleich mehrfach persische Adaptionen des japanischen Haiku und vieles mehr. Offen politische Lyrik, die Freiheit und Unterdrückung, religiöse Doppelmoral oder historische Ereignisse wie die Islamische Revolution, den Irakkrieg oder die Grüne Bewegung behandelt, steht neben Liebesgedichten, Naturlyrik und humorvoll-augenzwinkernden Texten.
Ein großer Fehler, diese Lyrik im Westen zu ignorieren
Abdollahi setzt diese Dichtungen im Nachwort in ihren größeren Kontext, erläutert auch jüngere Entwicklungen sowie bestimmte, dem deutschen Publikum vielleicht unbekannte Begriffe – außerdem geht er ausführlich auf die Eigenheiten der afghanischen und tadschikischen persischen Lyrik ein, die sich in wesentlichen Merkmalen vom lyrischen Schaffen im heutigen Iran unterscheidet.
Aktuell ist die Anthologie obendrein – sogar Corona-Gedichte gibt es. Das einzige Manko ist die bisweilen etwas steife, ja mitunter altbackene Sprache, die Scharf verwendet. Im direkten Vergleich wirkt beispielsweise Jutta Himmelreichs Übersetzung der Gedichte von Garous Abdolmalekian deutlich jünger und frischer. Das schmälert den Eindruck, den die Gedichte hinterlassen, aber allenfalls minimal.
Darunter sind nicht wenige Gedichte, die mal mehr, mal weniger offen auch Bezug auf westliche Literatur nehmen. So wie die deutsche Dichtung einmal von der „orientalischen“ beeinflusst war und in die Romantik mündete, schreibt Abdollahi, so sei die persische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts stark von westlichen, vor allem europäischen Vorbildern geprägt und beeinflusst. Das liege nicht zuletzt daran, dass in den letzten Jahren immer mehr westliche Literatur ins Persische übersetzt wird. Und nicht nur übersetzt – sie wird auch gelesen in Iran.
Das ist eine Feststellung, die wehmütig machen kann: Wäre es doch nur umgekehrt auch so! Aber aktuell kann man froh sein, wenn pro Jahr überhaupt eine Handvoll Übersetzungen aus dem Persischen auf Deutsch publiziert werden. Welch großer Fehler es ist, diese vielschichtige Literatur zu ignorieren, stellt die vorliegende Sammlung einmal mehr klar. Und sie kann auch als Einladung verstanden werden – als Einladung zum Weiterlesen. Von immerhin sieben der vertretenen Dichterinnen und Dichter liegen Bücher auf Deutsch vor, Bände von zwei weiteren erscheinen demnächst.
© Qantara
Ali Abdollahi, Kurt Scharf (Hrsg.), „Ein Dieb im Dunkeln starrt auf ein Gemälde, Persischsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts“, Sujet Verlag 2021, 410 Seiten
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