Proteste im Iran: Kurze Reflexion über eine Parole

Eine Würdigung kann als Ehrung gemeint sein, doch näher betrachtet ist sie manchmal weder Anerkennung noch Lob. Mag sie auch von ganz oben kommen.

Von Ali Sadrazadeh

Am 10. Oktober, in der dritten Woche der Revolte im Iran, bekundeten namhafte französische Intellektuelle ihre Solidarität mit den protestierenden Iranern*innen. Der Aufstand der iranischen Jugend verdiene eine universelle Anerkennung; die Parole „Frau, Leben, Freiheit“ habe einen historischen Stellenwert wie einst der Ruf der französischen Revolution: „Liberté, Égalité, Fraternité“.

Die Würdigung kam von fast allen Berühmten und Geachteten, die Frankreich derzeit zu bieten hat, darunter etwa Allain Badiou, Thomas Picketty, Costa Gavras und andere prominente und geschätzte Persönlichkeiten. Das gemeinsame der beiden Parolen ist ja bekanntlich die Freiheit. Doch das ist nun eine äußerliche, wörtliche Gemeinsamkeit. Wie sich die Freiheit letztendlich gestaltet, hängt von beiden anderen Maximen ab.

Welche Katastrophen und Verbrechen die Menschheit im Namen der Gleichheit und Brüderlichkeit im 20. Jahrhundert über sich ergehen lassen musste, ist hinlänglich bekannt. Stalinismus und Maoismus rechtfertigten ihre Terrorherrschaft ebenso mit Gleichheit wie diverse linke, rechte oder islamische Terroristen. Sie alle reklamierten für sich, die Gerechtigkeit auf der Erde verwirklichen zu wollen. 

Mit der Brüderlichkeit war offenbar mehr die Solidarität der älteren Brüder gemeint, nicht die Geschwisterlichkeit. Die Schwestern hatten und haben immer noch zu warten. 

Und die älteren Brüder verbündeten sich in diversen Männerbünden. Welche Absurditäten und Verbrechen diese Bünde hinterlassen haben, auch dafür gibt es historische Beispiele zuhauf. 

Dass die Postfaschistin Giorgia Meloni ihre Partei „Brüder Italiens“ nennt, ist nur die gezähmte, zivilisierte Variante der Brüderlichkeit. Welche Zukunft aber der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ bevorsteht, wissen wir nicht. Die iranischen Revolutionsgarden haben sich ernsthaft vorgenommen, die Rufenden zum Schweigen zu bringen. Aus dem Bewusstsein vieler jungen Iraner:innen werden sie sie nicht tilgen können.♦

Zur Startseite

Mehr zu den landesweiten Protesten im Iran:

Women’s lives matter

Arabische Solidarität mit den iranischen Frauen

Wie buchstabiert man die Geschichte?