Die Einschüchterung funktioniert nicht mehr

Seit über einem halben Jahr protestiert die iranische Bevölkerung gegen das Regime – angeführt von den Frauen, insbesondere jungen Frauen. Mit fünfzehn Akteurinnen haben die Journalistinnen Natalie Amiri und Düzen Tekkal für ihr neues Buch gesprochen.

 Von Gerrit Wustmann

 „Wir sehen im Iran die erste von Frauen angeführte Revolution unserer Zeit. Eine weiblich angeführte Revolution. Das gab es noch nie.“ Diese Sätze sagt die Schauspielerin und Aktivistin Nazanin Boniadi („Herr der Ringe“), und sie können als eine Art Motto über den fünfzehn Stimmen stehen, die die Herausgeberinnen Natalie Amiri und Düzen Tekkal für ihr gerade erschienenes Buch „Wir haben keine Angst! Die mutigen Frauen Irans“ gesammelt haben.

Seit der Ermordung der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini im September 2022 durch Polizisten in Teheran fegt eine Protestwelle durch Iran, wie es sie seit 1979 nicht mehr gegeben hat und in dieser Form in dem Land noch nie gab. Während viele westliche Medien scheinbar bereits das Interesse verloren haben und glauben, der Aufstand sei niedergeschlagen, verweisen insbesondere jene Frauen, die vor Ort sind (und teils anonym im Buch auftreten), darauf, dass sich nach und nach eine neue Dynamik entwickele. Tatsächlich finden weiterhin nahezu täglich Demonstrationen in unterschiedlicher Form statt. Seien es Protestmärsche, seien es Versammlungen von Menschen, die etwas tun, was  in Demokratien völlig normal, im Iran hingegen lebensgefährlich sein kann – zum Beispiel, indem sie Musik machen, tanzen, einander umarmen. Oder einfach, indem Frauen ohne Hijab in der Öffentlichkeit unterwegs sind, was inzwischen sehr oft der Fall ist. Die Formen des Widerstands sind vielfältig, und restlos alle der fünfzehn Stimmen sprechen von „Revolution“ – einer Revolution, die am Ende erfolgreich sein und die mehr als vierzigjährige Herrschaft des Regimes beenden wird, da sind sie sich sicher.

Man muss sich in diesem Kontext bewusst machen, was sowohl Umfragen als auch die Boykottrate der letzten Wahlen im Iran deutlich zeigen: Dass weit über achtzig Prozent der iranischen Bevölkerung das gegenwärtige Regime ablehnen. Dass es nicht mehr, wie noch bei der Grünen Bewegung im Jahr 2009, um Reformen innerhalb des Systems der Velayat-e Faqih geht, sondern um dessen Überwindung hin zu einer Form von echter Demokratie. Getragen wird dieses Bestreben in vorderster Front von den Frauen, die Repression und Fremdbestimmung des privatesten Alltags nicht länger akzeptieren, sowie von den zahlreichen, ebenfalls besonderen Unterdrückungsmechanismen ausgesetzten Minderheiten wie den Kurden, den Baha’i, den sunnitischen Arabern und vielen weiteren. Aber eben längst auch von einer Mehrheit der übrigen Bevölkerung, die sich diesem Impuls anschließt. Der Tod einer jungen Frau, noch dazu Kurdin, deren einziges Verbrechen es war, mitten in Teheran den Hijab nicht vorschriftsgemäß zu tragen, war der Tropfen, der das seit Jahrzehnten bereits übervolle Fass überlaufen ließ. Und es ist auch die abermals brutale Reaktion des Regimes und der Revolutionsgarden, die dafür sorgt, dass ein Zurück zum Status Quo kaum mehr denkbar scheint. Zu viele wurden seit letztem Herbst verhaftet, gefoltert, ermordet. Die Einschüchterung funktioniert nicht mehr – das wird in den vorliegenden Texten überdeutlich.

„Der Totalitarismus, die Tyrannei haben uns zu einer geschlossenen Gesellschaft zusammengeschmiedet“, sagt die 37-jährige Kurdin, die sich Ani nennt, und verweist eben auch auf die Komplexität der iranischen Gesellschaft mit ihren zahlreichen Ethnien, Lebensentwürfen und politischen wie religiösen Positionen, die bereit sind, Hand in Hand zu gehen, um etwas zu verändern: „Man spürt die Gemeinsamkeit, die Solidarität. Man spürt eine neue Art von Dialog, ohne dass die einzelnen Stimmen ihre Identität verlören. Diese Revolution hat einen ganz eigenen Diskurs, trotz der vielen Unterschiede (…). Allein das fühlt sich schon an wie ein historischer Moment.“

Oben: Shohreh Bayat (li.), Düzzen Tekkel - unten: Natalie Amiri und Fariba Balutsch - Foto: @YvonnedeAndres:
Oben: Shohreh Bayat (li.), Düzzen Tekkel – unten: Natalie Amiri und Fariba Balutsch – Foto: @YvonnedeAndres

Unter den versammelten Stimmen sind auch die Frankfurter Oberbürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg, die 1985 nach Deutschland kam, die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die Anwältin Nasrin Sotoudeh und die Fotografin Ghazal Abdollahi. Sie berichten von der Situation vor Ort, von ihrem Engagement, von der Lage der Menschen im Iran und von den katastrophalen Zuständen in den Haftanstalten, die immer mehr den Schreckensberichten der Achtziger Jahre ähneln. Das ist die eine Seite. Die andere ist die der Hoffnung und Zuversicht. Sie wissen, dass Iran mit seiner jungen und gebildeten Bevölkerung das Potential hat, ein demokratischer Staat zu werden – und auch, was das für die Region bedeuten würde. Eine demokratische Revolution in Iran könnte zu einer Kettenreaktion führen, so wie schon die Grüne Bewegung 2009 zumindest zum Teil ein Modell für den Arabischen Frühling war. Und sie alle haben eine gemeinsame Botschaft, eine gemeinsame Bitte an die Regierungen und Bevölkerungen insbesondere in Europa und den USA: hinzusehen, die Iraner*innen weiterhin zu unterstützen und zuerst und allem voran, das Regime nicht weiter zu stützen. Und sei es nur aus Eigennutz. Denn ein demokratischer Iran ist ein wesentlich besserer Partner für Politik und Wirtschaft als ein brutales Regime, dem für seinen Machterhalt noch jede Lüge und jedes Verbrechen recht ist.

„Der Westen hat all diese Jahrzehnte damit verbracht, sich auf Symptome zu konzentrieren. (…) Auf die Ursache des Problems, das Regime selbst, haben wir nicht geblickt“, stellt Nazanin Boniadi fest. Auch sie fordert „strategische Sanktionen“; eine Kernforderung der Aktivistinnen ist, die Revolutionsgarden, maßgebliche Stütze des Regimes, als terroristisch einzustufen.

Das Buch ist ein Zeitdokument und ein Blick mitten in die iranischen Verhältnisse der Gegenwart, in ein Land im Aufbruch. Diese Stimmen zu hören ist heute wichtiger denn je.♦

„Wir haben keine Angst! Die mutigen Frauen Irans“, Natalie Amiri und Düzen Tekkal, Elisabeth Sandmann Verlag, 144 Seiten.

© Iran Journal

Diese Buchbesprechung kann Sie auch interessieren:

Das Bildnis der Brutalität

Zur Startseite