Ziviler Ungehorsam im Stil iranischer Teenager

Immer mehr Videos werden in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, in denen Jugendliche und Frauen im Iran gegen die staatliche Moralvorstellung verstoßen. Eines davon sei ein historisches Ereignis in der Geschichte der Islamischen Republik gewesen, schreibt Maziar Rozbeh in seinem Kommentar.

Am ersten iranischen Kalendertag dieses Jahres wurde am 21. März nach den Glückwünschen des religiösen Oberhaupts der Islamischen Republik, Ali Chamenei, ein Videoclip mit dem Titel „Salam Farmandeh“ („Hallo Kommandant“) im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt. Kurz darauf berichteten regierungsnahe Medien, dass der Videoclip bei religiösen, sprich: regierungstreuen Familien auf positive Resonanz gestoßen sei. Der Text des Songs in dem Video ist ganz und gar ideologisch und erinnert mich an Nazi-Propagandafilme der 1930er Jahre – mit dem Unterschied, dass in jenen nicht Kinder als Soldaten auftauchten.

In „Hallo Kommandant“ jedoch werden unschuldige Kinder auf anstößige Art und Weise instrumentalisiert. In Zeiten furchtbarer Preisanstiege im Iran, in denen immer mehr Menschen in Gräbern und unter Autobahnbrücken übernachten müssen, immer weniger sich Fleisch leisten können und stattdessen Rinder- und Schafsknochen kaufen, demonstriert das ekelerregende Video den „tadellosen“ Kindesmissbrauch im Rahmen der schiitischen Propaganda.

In diesem Video salutieren die Kinder und tun ihre Liebe für Ali Chamenei kund, indem sie ihre Hände auf die Brust legen und den „imaginären Feinden von Chamenei“ drohen. Die Macher des Videos möchten den Eindruck vermitteln, dass selbst die Heranwachsenden regimetreue Anhänger*innen seien und dazu bereit, sich zu erheben und den Widersachern des Regimes und des „Führers“ kurzen Prozess zu machen.

Der Videoclip „Salam Farmandeh“:

Wie gelangte die Islamische Republik an den Punkt, an dem Minderjährige in Propagandavideos wie den Kasernen aufmarschieren und dem „obersten Führer“ Anerkennung zollen? Über diese Frage lassen sich Bücher schreiben: von der repressiven Politik im Inland über Sabotageaktionen im Ausland bis zur weitverbreiteten Korruption in der Verwaltung als Folge von Vetternwirtschaft.

Der Zustand der Islamischen Republik war noch nie so chaotisch und konfus. Alle Meldungen und Entwicklungen deuten darauf hin, dass das Regime einen landesweiten Volksaufstand fürchtet. Parallel dazu treibt die Islamische Republik eine noch größere, wachsende Angst um: nämlich die Angst vor Belanglosigkeit. Die Angst davor, dass die Lehren und Werte, die das Regime dreiundvierzig Jahre lang aufrechtzuerhalten versuchte, in Vergessenheit geraten, weil sich die neue Generation mit dem Wertesystem und dem Charakter der herrschenden Geistlichkeit nicht identifiziert.

Diese Angst konnte man etwa bei der jüngsten Rede von Chamenei vor leitenden Justizbeamten spüren, als er diese anhielt, Individuen und Kräfte zu bekämpfen, die die Gedanken des iranischen Volks „manipulieren“. Im gleichen Atemzug verglich er die jetzige Situation mit der der 1980er Jahre. Jeder, der das dunkle und mörderische Jahrzehnt im Iran miterlebt hat, weiß, dass von Zeiten die Rede ist, in denen die gesamte Opposition vernichtet werden und die Islamisten die absolute Kontrolle erlangen sollten; von einem Jahrzehnt, in dem während eines einzigen Sommers im Jahr 1988 Tausende politische Gefangene hingerichtet und in Massengräbern verscharrt wurden. Die Gräber vieler von ihnen sind immer noch unbekannt.

Chameneis jüngste Rede kündete von einer noch engeren Atmosphäre, nämlich der Zunahme von Hinrichtungen sowie einem härteren Umgang mit Gegnern und politischen Gefangenen. Kurz zusammengefasst: Die Erstickung jeglicher Gegenstimmen im Keim. Selbst die Zeilen, die Sie gerade lesen, manipulieren in den Augen von Chamenei und seinen Hardlinern die Gedanken der Bevölkerung.

Geschichte schreiben

Während das Video „Salam Farmandeh“ immer wieder im staatlichen Rundfunk ausgestrahlt wurde, tauchte ein weiteres kurzes Video in den Sozialen Netzwerken auf – s. unten. Darin war eine Gruppe von Jungen und Mädchen im Teenageralter auf einem Boulevard in der Stadt Shiraz im Süden des Iran zu sehen. Sie taten nichts anders als Skateboard zu fahren und sich miteinander zu unterhalten. Keine Umarmungen, kein Tanzen, kein Küssen oder sonst etwas „Unislamisches“: ein einfaches Video, das mit Sicherheit in kaum einem anderen Land Aufsehen erregen würde. Diese Jugendlichen haben allerdings mit ihrer „westlichen“ Lebensweise den Großteil dessen zunichte gemacht, was die Islamische Republik Iran mit schwindelerregenden Propagandakosten zu etablieren versucht hat.

Einige der Shirazer Teenager wurden identifiziert und festgenommen. Eine Reihe von örtlichen Zuständigen verurteilte das Treffen, das in der Geschichte der Islamischen Republik einmalig sei und dessen Wiederholung um jeden Preis verhindert werden müsse. Die Jungen und Mädchen hätten „unter dem Einfluss der Feinde der Islamischen Republik in Amerika und Europa“ gegen die hiesigen Regeln verstoßen, stellte der oberste Generalanwalt des Landes fest.

Der Treffpunkt auf dem Boulevard in Shiraz war genau der Ort, an dem die Welt die echten, nicht manipulierten Teenager des Iran des 21. Jahrhunderts beobachten konnte: Jungs mit westlich gemusterten T-Shirts und Mädchen, deren Kleidung nicht den geltenden Vorschriften entsprach, mehrheitlich ohne Kopftuch.

Ich glaube, dass die Jugendlichen von Shiraz die Generation sind, die mit ihrer Leichtigkeit in der ständig erstickender und hoffnungsloser werdenden Lage dem ganzen Land Leben und Hoffnung einhauchen kann. Als ich das Video sah, sehnte ich mich danach, unter ihnen, in ihrem Alter zu sein und wie sie durch die Straßen zu streifen. Das war das Selbstverständlichste, dessen meine Generation beraubt wurde – durch die Milizen und Zivilpolizisten, die jede Versammlung von mehr als zwei oder drei Personen auflösten und uns nie die Möglichkeit gaben, unsere Jugend auszuleben.

Heute schaue ich mir erstaunt den Lebensstil der jüngeren Generationen meines Landes an und bewundere und unterstütze sie, wo und wann es notwendig ist. Die Jugendlichen von Shiraz symbolisieren eine emanzipierte, regimefremde Generation, die nach all den Morden, Verbannungen und Repressionen der Islamischen Republik wie ein Dorn im Auge des Revolutionsführers Ali Chamenei ist. Sie hat anscheinend in keinster Weise Verbindungen zu den Vorstellungen des islamischen Regimes im Iran.

Die Teenager von Shiraz haben auf einem geografisch kleinen Fleck nur durch ihre Art und durch die Ablehnung der obligatorischen Kleidervorschriften ein historisches Ereignis erzeugt, an das wahrscheinlich in Zukunft im Zusammenhang mit Entwicklungen, die zum Sturz der Islamischen Republik geführt haben, als einer der Wendepunkte erinnert werden wird.♦

Maziar Roozbeh ist ein Pseudonym, um den im Iran lebenden Autor zu schützen.

© Iran Journal

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