Vom neuen Justizchef und Stromausfällen im Iran

Ein ungewöhnlicher Artikel des in Teheran lebenden Publizisten, Dichters und Übersetzers Maziyar Roozbeh* über den Machtmissbrauch des islamischen Regimes und das andauernde Leid der Bevölkerung im Iran.

Vielleicht fragen Sie sich, was der neue Justizchef des Iran mit den landesweiten Stromausfällen dort zu tun hat? Nichts! Ich war nur gerade dabei, für das Iran Journal einen Beitrag über jenen zu schreiben, als Mitten im zweiten Satz plötzlich der Strom ausfiel.

Dieser erste Satz lautete: Nachdem Ebrahim Raissi durch eine Maskerade namens Präsidentschaftswahl und unter direktem Einfluss von Revolutionsführer Ali Khamenei in Kooperation mit den Anhängern des Regimes zum nächsten Präsidenten des Iran gewählt worden war, wurde sein treuer Gefährte und Stellvertreter im Justizapparat, Gholamhossein Mohseni-Ejei, zum Justizchef befördert. Auch das unter dem direkten Einfluss von Khamenei, jedoch ohne lästige Wahlen abhalten zu müssen, um Demokratie vorzutäuschen – zwei Ernennungen innerhalb von weniger als …

Und genau als ich dabei war, „zwei Wochen“ zu schreiben, fiel der Strom aus. Ein Problem, unter dem in diesen Tagen die meisten Iraner*innen – neben Corona und der hohen Inflation – besonders leiden, ohne zu wissen, an wen sie sich deswegen wenden beziehungsweise wen sie dafür verantwortlich machen sollen.

Ich lasse also das Schreiben und frage mich: Während seit Wochen Wasser und Strom in vielen Teilen des Iran rationiert sind und viele Menschen die hohen Lebensmittelkosten nicht mehr bezahlen können, interessiert sich die Bevölkerung da überhaupt für das Kommen oder Gehen irgendwelcher Amtsträger?

Klimaanlagen und Kühlschränke können ohne Strom nicht arbeiten. Bei einer Hitze von 40 Grad Celsius schwitze ich am ganzen Körper. Meine Frau schimpft über die Situation und deren Verursacher vor sich hin. Ich versuche, konzentriert zu bleiben und mich weiterhin der sinnvollsten Tätigkeit meines Lebens, dem Schreiben, zu widmen. Doch durch die Hitze verliere ich jede Geduld. Niemals ging es meinem Heimatland schlechter als heute, denke ich. Als ich mir eine Zigarette angezündet habe und meine Augen schließe, wird mein Kopf von den Bildern der katastrophalen Ereignisse der vergangenen vier Jahrzehnte überflutet. Es gab noch Schlimmeres, erinnere ich mich. Der Mensch ist wesentlich zäher, als er denkt.

Wassermangel, Stromausfälle, staatliches Missmanagement, Armut und politische Unterdrückung haben in den letzten Tagen für Straßenproteste in mehreren Provinzen gesorgt : 

Während des Stromausfalls melden sich auch die Mücken und machen sich über meinen nackten Körper her. Ich rufe meinen Stromanbieter an: Es ist besetzt. Nach einigen Versuchen höre ich die automatische Ansage: „Aufgrund der Stromknappheit werden Sie leider während der nächsten zwei Stunden keinen Strom haben. Dafür entschuldigen wir uns bei Ihnen.“

Als das Wort „entschuldigen“ fällt, frage ich meine Frau: „Haben sich die Verantwortlichen dieses Regimes jemals für irgendetwas bei den Menschen entschuldigt?“ Sie zuckt mit den Schultern und erinnert mich zurecht an die tiefgefrorenen Hühnchen, die ich neulich gekauft habe. Es ist schon vorgekommen, dass tiefgefrorenes Fleisch wegen eines Stromausfalls in der Tiefkühltruhe auftaut und vergammelt.

Die planmäßigen Stromausfälle dauern zwei Stunden. Es ist gleich soweit. Nach etwas mehr als zwei Stunden fließt wieder Strom und unser Fernseher, der vor dem Stromausfall die Nachrichtensendung des staatlichen Rundfunks zeigte, springt an. Präsident Rouhani spricht in der Kabinettssitzung. Ich höre genau zu. Meine Frau schimpft auf ihn. Rouhani quasselt wie gewohnt mit einem lächerlichen und unverschämten Sarkasmus. Auch in Europa fiele der Strom stundenlang aus. Das passiere nicht nur im Iran.

Zuvor hatte er, um die Bevölkerung zu beruhigen, seinen Landsleuten die frohe Botschaft übermittelt, dass Stromausfälle einen großen Vorteil hätten: Daraus lernten wir, das Gottesgeschenk Strom mehr zu schätzen – ja, das hat der iranische Regierungschef tatsächlich gesagt!

Am liebsten würde ich den Fernseher demolieren. Da ich mir jedoch keinen neuen leisten kann, zünde ich mir eine weitere Zigarette an, obwohl die alte noch im Aschenbecher qualmt. Es brodelt in mir. In meinem Kopf sehe ich die Bilder der Menschen in den Provinzen Khuzestan und Sistan und Belutschistan, die kein Trinkwasser haben. Soll ich mich schämen, dass es mir besser geht als meinen Landsleuten in den meisten Provinzen, als den Arbeitern der Ölindustrie, die seit Wochen streiken, weil ihr Lohn den Lebensunterhalt nicht deckt, als den Lehrern, die abends als Taxifahrer arbeiten müssen, um überleben zu können, als den meisten Jugendlichen, die unter Arbeitslosigkeit und dazu noch staatlichen Repressalien leiden, weil sie sich nicht an die überkommenen islamischen Normen halten?

Ich gehe davon aus, dass mich der Chefredakteur des Iran Journals nach der Lektüre dieses Geschwätzes anschreiben wird, um zu sagen, ich sei zu sehr vom Thema abgewichen und der Artikel sei wieder zu lang. Er hätte recht. Aber ich kann den gewissenlosen Arbeitgeber nicht ignorieren, der den in einer Ölraffinerie streikenden Arbeitern das Wasser abgestellt hat – in der Hoffnung, sie würden ihren Protest dann vor lauter Durst beenden.

Die Demonstrationen begannen in der Provinz Khuzestan – hier ein Protestzug in der Stadt Soosangard:

Doch gehen wir zum ursprünglichen Thema zurück: Nach Paragraph 157 des iranischen Grundgesetzes soll das Amt des Justizchefs von einem „gerechten Gelehrten“ bekleidet werden. Bei den beiden letzten Ernennungen – von Ebrahim Raissi und seinem Nachfolger Gholamhossein Mohseni-Ejei – hat das religiöse Oberhaupt des Iran diese Voraussetzung jedoch komplett außer Acht gelassen. Nicht einmal das eigene Grundgesetz wird respektiert. Raissi und Mohseni-Ejei sind der Bevölkerung nicht als „gerechte Gelehrten“ bekannt, sondern als ungerechte, blutrünstige Politiker, die die Legitimation für ihre Brutalität aus ihrer Robe und ihrem Turban gewinnen.

Meine Frau schaltet einen anderen Sender ein. Ich gehe in mein Arbeitszimmer. Ein Freund hat mir per WhatsApp ein Video geschickt: Auch in einem Krankenhaus im Iran ist der Strom ausgefallen. Ein Mitarbeiter der Intensivstation hat in der Dunkelheit mit seinem Handy den durchgängigen Signalton der Beatmungsgeräte aufgenommen. „Die Menschen sterben einer nach dem anderen aufgrund des Stromausfalls und des fehlenden Notstroms“, sagt er mit zitternder Stimme. Ein apokalyptisches Video, das unter den Horrorfilmen aus Hollywood seinesgleichen sucht. Meine Wut wird größer. Aber zurück zum neuen Justizchef der Islamischen Republik, bevor der Strom wieder ausfällt.

Der 65-jährige Gholamhossein Mohseni-Ejei gehört zu den einflussreichsten und brutalsten Beamten des iranischen Justiz- und Sicherheitsapparats. Sein Name weckt Erinnerungen an einige bekannte politische Fälle – darunter die Tötungen von Schriftstellern und Andersdenkenden in den 1990er Jahren, die Hinrichtung und Inhaftierung von Personen aus dem Umfeld des kritischen Großayatollahs Hossein Ali Montazeri, die massenhafte Sperrung von Printmedien und – last but not least: Ejei hat den iranischen Journalisten Issa Saharkhiz in die Schulter gebissen und ihn mit einer Zuckerdose beworfen … !

Mohseni-Ejei war unter dem früheren Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad Geheimdienstminister. Nach Meinungsverschiedenheiten entließ Ahmadinedschad ihn. Daraufhin wurde er unverzüglich zum Vizejustizchef ernannt. Sein Name wurde mehrfach mit großen Korruptionsaffären innerhalb der iranischen Justiz in Verbindung gebracht. Er hat bisher alle Vorwürfe zurückgewiesen. Das Oberhaupt der Islamischen Republik, Ali Khamenei, beschrieb jedoch seine Leistungen kürzlich als hervorragend. Khamenei hat mit Raissi und Mohseni-Ejei zwei der drei Staatsgewalten Politikern anvertraut, die wegen ihrer Beteiligung an massiven Menschenrechtsverletzungen im Iran auf den Sanktionslisten der USA und der EU stehen.

Viele Beobachter sind der Meinung, dass die iranische Judikative durch ihren neuen Chef keine spürbaren Veränderungen erleben werde. Inhaftierungen und die Unterdrückung von Andersdenkenden und Kritikern würden sich als unzertrennlicher Teil des iranischen Regimes fortsetzen.

Alle entscheidenden Ämter der Islamischen Republik werden von besonders loyalen Mitgliedern eines kleinen Kreises um Revolutionsführer Khamenei besetzt. Da dieser Kreis jedoch von Tag zu Tag enger wird, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Strippen in allen Bereichen des Staates bald ausschließlich von Khameneis Büro und den Revolutionsgarden gezogen werden.

Bis dahin wird der Strom weiter ausfallen, und wir werden uns Gedanken darüber machen, ob unsere tiefgefrorenen Hühnchen aus dem Ausland das Missmanagement unseres Staates überstehen werden oder nicht.

*Maziyar Roozbeh ist ein Pseudonym, um den Autor zu schützen.

© Iran Journal

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