Fehlkalkulationen überall, in Tel Aviv ebenso wie in Teheran
Noch will Benjamin Netanjahu keinen Mehrfrontenkrieg. Was sich Israels Ministerpräsident in Gaza vorgenommen hat, ist kompliziert genug. Nichtsdestotrotz standen Iran und Israel nie so nah vor einer direkten Konfrontation wie in diesen Tagen. Welche Rolle spielt der Iran tatsächlich beim Terror der Hamas?
Von Ali Sadrzadeh
„Nicht alles, nicht jede Einzelheit unserer Unterstützung für die Hamas sollten wir auf dem Medienmarkt zur Schau stellen“, schrieb an diesem Dienstag die reformorientierte Teheraner Tageszeitung Etemad.
Wenige Stunden zuvor hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Ansprache an die Nation gesagt: „Wir werden den Nahen Osten verändern. Was die Hamas erleben wird, wird hart und fürchterlich sein. Wir sind erst am Anfang.“ Um klar zu überblicken, wo die Grenze dieser Veränderung liegen könnte, präzisierte der israelische Präsident Jitzchak Herzog: „Die unverzeihliche Sünde wird nicht nur von einer mörderischen Terrororganisation angeführt, sondern auch von einer bösen Achse, deren Basis im Iran liegt. Irans Stellvertreter arbeiten unermüdlich daran, Israel zu zerstören.“
Es riecht nach Flächenbrand. Und den Geruch dieses angekündigten Brandes riecht man bereits auch in Teheran.
Auch die USA warnen
Und da, wo „die Achse des Bösen“ tätig ist, fühlen sich auch die USA immer noch genötigt, zu handeln: „ Alle Feinde Israels warnen wir, die Ereignisse nicht für sich auszunutzen“, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am selben Tag, an dem er die Entsendung des Flugzeugträgers USS Ford samt Kriegsschiffen Richtung Israel verkündete. Zwischen Nutzen und Ausnutzen gibt es allerdings eine fließende Grenze. Welche Rolle spielt die Islamische Republik tatsächlich beim Massenterror der Hamas?
Man schreibt dem Iran dabei verschiedene Rollen zu: als Regisseur, Koordinator, Akteur, Financier, Berater und so weiter – je nachdem, wer gerade der Rollenverteiler ist. Für jede dieser Rollen lassen sich natürlich genug Hinweise, Anhaltspunkte und Andeutungen finden. Eine „Smoking Gun“, handfeste Fakten, gibt es aber nicht, noch nicht. Und niemand weiß ganz genau, ob es sie überhaupt je geben wird. Es sei denn, man sitzt in der Kommandozentrale der Hamas oder der Auslandseinheiten der iranischen Revolutionsgarde, Quds-Brigaden.
Am Sonntag stützte sich das Wall Street Journal auf zwei anonyme Quellen aus Hisbollah und Hamas und behauptete, Iran habe mit der Hamas bei der Vorbereitung der Terroraktion zusammengearbeitet. In Beirut hätten dazu mehrere Treffen von Kommandanten aus Teheran und Gaza stattgefunden, einmal sei sogar der iranische Außenminister dabei gewesen, so das WSJ. Eine alarmierende Meldung, die auch alarmierende Reaktionen nach sich ziehen könnte, falls sie wahr sein sollte. Die internationalen Dimensionen einer solchen Reaktion sind kaum vorstellbar.
Deshalb reagierte das Weiße Haus sehr schnell und ließ seinen Kommunikationsdirektor John Kirby verkünden, es gebe bisher keine konkreten Hinweise auf eine Beteiligung Irans. Doch am nächsten Tag legte die seriöse Washington Post nach und meldete, der Großangriff der Hamas sei vor einem Jahr und mit iranischer Unterstützung vorbereitet worden. Die Planungen hätten mindestens schon Mitte 2022 begonnen, zitierte die Post Geheimdienst-Analysten. Iranische Verbündete hätten militärisches Training, logistische Hilfe und Dutzende Millionen Dollar für Waffen bereitgestellt.
Auch einige Vertreter der Hamas räumten ein, ihr Massenterror sei in enger Absprache mit den Mächtigen in Teheran und auch mit der libanesischen Hisbollah vorbereitet worden.
Dementi à la Khamenei
Aus Angst, sehr bald tatsächlich eine „Smoking Gun“ präsentiert zu bekommen, sah sich am Dienstag Ali Khamenei, der mächtigste Mann Irans, gezwungen, persönlich in Aktion zu treten. Der Ort seines Auftritts war bezeichnend: eine Offiziersversammlung in einer Militärakademie.
Am vergangenen Samstag habe „das zionistische Gebilde“ eine irreversible Niederlage erfahren müssen. „Von Niederlage sprechen zwar alle, aber ich sage irreversibel“, so Khamenei. „Wir küssen die Hände dieser klugen Kämpfer, dieser fähigen Helden. Diejenige, die behaupten, Nicht-Palästinenser seien am Werk gewesen, sind Opfer ihrer Fehlkalkulation.“ Das ist ein offizielles Dementi à la Khamenei – mehr nicht.
Ob das Netanjahu reicht, wird die Zukunft zeigen. Momentan ist er voll mit dem beschäftigt, was er sich in Gaza vorgenommen hat; und das ist kompliziert genug. Er will die Hamas als Organisation so gründlich vernichten, „dass sie in den nächsten Dekaden nicht mehr aktionsfähig sein wird“.
Die Hamas, die wie eine kommunistische Partei streng zentralistisch organisiert ist, hat etwa 80.000 Mitglieder. Die Mehrheit der Familien im Gazastreifen sind miteinander verwandt oder verschwägert. Und in fast jeder dieser Familien dort gibt es einen Hamas-Kader. Die Ideologie dieser Organisation lässt sich nicht tilgen, das weiß Netanjahu nur zu gut.
Israel spielte ja in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts quasi die Rolle als Geburtshelfer bei der Verwandlung der Hamas von einem Wohltätigkeitsverein zu einer politischen Organisation. Man glaubte, die Unterstützung der Hamas-Projekte schwäche Yassir Arafat und mit der Hamas ließe sich anders als mit Arafat kein Staat machen. So die Überlegung der Strategen.
Eine totale Fehlkalkulation, wie wir heute wissen.
Eine Sackgasse namens Strategische Tiefe
Auch Ali Khamenei, den man ohne Wenn und Aber einen Antisemiten nennen kann, steht vor dem Scherbenhaufen seiner politischen Fehlkalkulationen. Seit 34 Jahren ist er „Revolutionsführer“, uneingeschränkt herrscht er im Iran. Und in all diesen Jahren hat er das finanzielle, politische und militärische Potential des Landes hauptsächlich für seine „strategische Tiefe“ eingesetzt. Kern dieser Strategie ist es, diverse Milizen in verschiedenen Ländern der Region für den Kampf gegen Israel zu bewaffnen und zu unterstützen. Unter den Palästinensern waren der „Islamische Jihad“ und die Hamas die Auserkorenen – allerdings mehr Jihad als Hamas. Doch deren Ära nähert sich einstweilen dem Ende. Khamenei kann nur hoffen, dass dieser Kelch an ihm vorüber geht.♦
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