Performanz von Kultur, Religion und Körper im Iran

Durch die Digitalisierung haben die Rezipienten Zugang zu musikalischen Stilrichtungen aus der ganzen Welt und können ihre Neugier unmittelbar befriedigen. Ein Konzert brauchen sie dafür nicht. So haben auch Punk oder Heavy Metal Einzug gehalten. Solche Musikszenen wären ohne das Internet in dem engen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen des Iran undenkbar. Musiker greifen dann die neuen Anregungen auf und entwickeln Rhythmen, Themen oder den Instrumenteneinsatz in der iranischen Musik weiter. Es handelt sich also um eine selbstermächtigende, schöpferische Aneignung fremder Musiksprachen.

Sie widmen sich ebenfalls der Medizinsoziologie und dem weiten Feld des Human Enhancement – auch dies ein bedeutender Bereich der Selbstermächtigung in der iranischen Bevölkerung. Wie beeinflussen sich Religion und Medizin?

Kosmetische Operationen und Optimierungen des eigenen Körpers – etwa Botox-Spritzen, Nasen- und Lippenkorrekturen, Kriegsverletzungen „reparieren“, Lernfähigkeit verbessern und vieles mehr – sind im Iran sehr verbreitet. Auch ästhetische Korrekturen von Geschlechtsorganen werden durchgeführt, wobei solche Eingriffe in Kliniken stets von religiösen Autoritäten zu genehmigen sind. Unser wissenschaftliches Augenmerk liegt insbesondere auf Haartransplantationen und Epilation, was beides zunehmend von Männern in Anspruch genommen wird. Hintergrund ist die hohe Bedeutung der Barttracht in islamischen Kulturen, wie beim Propheten Mohammed bzw. von den schiitischen Imamen vorgelebt. Ein geringer Bartwuchs schmälert daher das Ansehen eines Mannes, sodass eine Barthaartransplantation häufig auch religiös motiviert ist. Die Reduzierung starker Körperbehaarung mittels Laserepilation hingegen hat zumeist ästhetischen Charakter.

Gibt es im Umgang mit medizinischen Eingriffen Unterschiede im schiitisch- und sunnitisch-islamischen Recht?

Grundsätzlich genießen Schiiten – sie sind im Iran in der Mehrheit – in islamrechtlicher Hinsicht größere Freiräume. Entscheidet sich ein Ehepaar zum Beispiel aufgrund der Unfruchtbarkeit des Mannes für eine künstliche Befruchtung, darf nach der Rechtsinterpretation eines führenden islamischen Rechtsgelehrten auf Fremdsperma zurückgegriffen werden. Sunnitischen Paaren ist dies allerdings verwehrt: Die direkte männliche Abstammungslinie zählt mehr als der Wert von Kindern in der Familie. Hier finden medizinische Möglichkeiten und Religion bislang nicht zusammen.

Kosmetische Operationen und Optimierungen des eigenen Körpers sind im Iran sehr verbreitet!
Kosmetische Operationen und Optimierungen des eigenen Körpers sind im Iran sehr verbreitet!

Sie befassen sich überdies mit zivilen Wohltätigkeitsorganisationen im Iran. Liegen bereits Erkenntnisse vor, inwieweit sie dem Einzelnen weitere Wege der Selbstermächtigung aufzeigen?

In der Tat gibt es immer mehr säkulare Wohltätigkeitsorganisationen. Sie sind häufig über private Stiftungen oder Vereine finanziert und widmen sich verschiedensten Themen: Straßenkindern, Frauen in Not, Tierschutz oder Umweltaspekten. Wissenschaftliche Ergebnisse können wir leider noch nicht präsentieren, weil unserer Expertin vom iranischen Außenministerium (noch) kein Forschungsvisum ausgestellt wurde. Der Antrag läuft weiter, wir denken aber gerade auch über andere, digitale Wege für unsere Feldforschung nach. Diese Notwendigkeit hat sich aufgrund der Corona-Pandemie noch verstärkt.

Die gesellschaftliche Relevanz verbindet Ihre sämtlichen Forschungsinitiativen. Können Sie ein paar generelle Worte zu bestehenden Rollenbildern sagen?

Mit den Veränderungen und Modernisierungen in der iranischen Gesellschaft geht ein rasanter Wandel der Rollenbilder einher. Es gibt viel mehr berufstätige Frauen als früher, sie verfügen über ein eigenes Einkommen, was sie selbstständiger macht. Gegenwärtig wird rund ein Drittel der iranischen Ehen geschieden – dieser Schritt geht häufig von den Frauen aus. Auch der Anteil von Frauen an Universitäten und Bildungseinrichtungen ist deutlich gestiegen, oft auf über 50 Prozent. Obwohl Frauen rechtlich noch immer benachteiligt sind, stärkt der Bildungszuwachs ihre Rolle. Sie erobern sich Schritt für Schritt neue Freiheiten. Manche verzichten auf den Straßen Teherans bereits auf das Kopftuch, andere kämpfen um einen Besuch im Fußballstadion, damit sie ihre männliche Lieblingsmannschaft sehen können.

Ihre Forschung lebt von der kooperativen Vernetzung der Wissenschaftler auf internationaler und fachübergreifender Ebene. Wie rekrutieren sie die Forscherteams?

Die Projektleiter für die Bereiche Medizinsoziologie, Religions- und Musikwissenschaft entwickeln jeweils Subprojekte und suchen für die dreijährige Forschungsarbeit geeignete Mitarbeiter. Unsere Wissenschaft lebt dabei von einer internationalen Mischung. Dazu gehören lokal Beschäftigte in Istanbul – deutsche, iranische, türkische und pakistanische Kollegen mit jeweils unterschiedlichen Qualifikationen und Expertisen. Außerdem wechseln wir jedes Jahr die Besetzung der Postdoktoranden-Stellen, um das Netzwerk zu vergrößern. Parallel arbeiten wir natürlich in engem Austausch mit Forscherkollegen aus Deutschland und dem Iran.

Worin liegen die größten Schwierigkeiten, um „Wissen entgrenzen“ zu können, wie es im Förderprojekt heißt?

Da sind vor allem die problematische außenpolitische Lage sowie die schlechten ökonomischen Bedingungen im Iran zu nennen. Dazu kommen komplexe und langwierige Entscheidungsprozesse an den Instituten und Einrichtungen. Und unter dem ökonomischen Ungleichgewicht zwischen iranischen und deutschen bzw. iranischen und türkischen Universitäten leidet die für den wissenschaftlichen Austausch so notwendige Reisetätigkeit der iranischen Kollegen. Dank unseres Standorts Istanbul können wir hier aber etwas Abhilfe schaffen, da Iraner für die Einreise in die Türkei kein Visum benötigen. So können wir Treffen und Workshops flexibler als in Deutschland gestalten; außerdem sind Reise-, Übernachtungs- und Veranstaltungskosten erheblich geringer.

Das Orient-Institut mit dem Standort Istanbul spielt also eine Art Vermittlerrolle?

Das kann man so sagen. Das Iran-Projekt „Wissen entgrenzen“ ist Teil des ganzheitlichen Anliegens und der Zielsetzung unseres Instituts. Gemeinsam mit verschiedenen Universitäten in Deutschland und auch mit unserer Partnereinrichtung, dem Orient-Institut Beirut wollen wir dauerhafte, stabile und vertrauensvolle Kooperationsnetzwerke aufbauen. Die Wissenschaftler sollen sich aufeinander verlassen und Fragestellungen in fachübergreifender Gemeinschaft bearbeiten können. Manchmal braucht man dazu einen langen Atem. Und die Einsicht, dass nicht jedes Projekt gelingen kann. Wissenschaft lebt letztlich vom Engagement und Interesse der beteiligten Menschen. Auf einer zweiwöchigen Erkundungstour im November wurden unsere Forscher bei den iranischen Kollegen stets mit offenen Armen empfangen. Damit wir Verständigungsprobleme minimieren, haben wir bei uns am Institut Persischkurse eingeführt.

Wie werden Sie nach Abschluss des Förderprojekts der Max Weber Stiftung Ihre Ergebnisse präsentieren?

Gegen Ende der Projektlaufzeit wollen wir in Istanbul und Hamburg professionelle Filmfestivals veranstalten, wobei Dokumentationen und Kurzfilme den soziokulturellen Wandel im Iran insbesondere in den Bereichen Musik, Religion und Medizin veranschaulichen. Die Forschungsfelder sollen durch pointierte Kurzvorträge im TED-Stil eingeleitet werden. Ein Live-Blog der Max Weber Stiftung wird die Festivals begleiten, sodass Interessierte alles mitverfolgen können. Aber auch jetzt sind projektbegleitend bereits Podcasts in Arbeit. Selbstverständlich nutzen wir auch die üblichen Kanäle der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse über Publikationen. Unser Ziel ist auch, dass Menschen von unserer Forschung profitieren, beispielsweise durch den engeren Aufbau von menschlichen Beziehungen zwischen dem Iran, Deutschland und der Türkei. Deshalb sollen die Ergebnisse von einer möglichst breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden.♦

   Das Interview führte Patricia Pieckenbrock

Mit freundlicher Genehmigung des Orient-Instituts Istanbul.

Prof. Dr. Raoul Motika studierte Geschichte und Kultur des Nahen Ostens, Iranistik, Politikwissenschaft und Historische Hilfswissenschaften an den Universitäten München, Izmir und Teheran. Seit Oktober 2010 ist Motika Direktor des selbstständigen Orient-Instituts Istanbul. Seine Forschungsinteressen reichen von historischen, politischen und religiösen Entwicklungen in Deutschland über die Türkei und den Iran bis hin zu Kaukasien und Zentralasien.

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