Performanz von Kultur, Religion und Körper im Iran

Interview mit Prof. Dr. Raoul Motika.

Wie lässt sich kultur-, fach- und länderübergreifend forschen? Was bewegt Wissenschaftler und wie finden sie zusammen? „Wissen entgrenzen“ – so heißt ein groß angelegtes Forschungsvorhaben der Max Weber Stiftung. Klares Ziel des Förderprojekts ist die Erschließung innovativer Forschungsfelder in globalen Kooperationen und vernetzten Kontexten. Zahlreiche Wissenschaftler befassen sich neben Europa mit den Schlüsselregionen Afrika, Naher und Mittlerer Osten sowie dem pazifischen Raum. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Wissen entgrenzen“ startete im Frühjahr 2019 und ist zunächst auf eine Laufzeit von drei Jahren ausgelegt. Der Fokus eines Teilprojekts liegt auf den soziokulturellen Entwicklungen in der Islamischen Republik Iran. Prof. Dr. Raoul Motika, Direktor des Orient-Instituts Istanbul in der Türkei, gewährt wissenschaftliche Einblicke. 

Performanz von Kultur, Religion und Körper als Strategien der Selbstermächtigung in der Islamischen Republik Iran – so lautet der Titel Ihres umfassenden Forschungsvorhabens. Herr Motika, was darf man sich in kurzen Worten darunter vorstellen?

Wir untersuchen, wie sich Menschen unter den aktuell schwierigen Verhältnissen im Iran persönliche Gestaltungs- und Handlungsmacht verschaffen. Auf der einen Seite sind sie mit strikten Werte-Normen-Systemen und Gesetzeslagen konfrontiert, zugleich sind aber auch sie Teil der globalisierten und digitalisierten Welt. Ohne selbst reisen zu müssen, bringt ihnen bereits das Internet Lebensformen, kulturelle Ausdrucksformen sowie Möglichkeiten anderer Länder und Kulturen nahe. Bei unserer Forschung geht es nicht darum, politische Einstellungen einzelner Menschen zu erfassen oder gar, ob sie die staatliche Ordnung infrage stellen. Wir wollen vielmehr herausfinden, wie sich die Menschen im Iran selbst sehen, wie sie mit ihren Bedürfnissen umgehen und wie sie ihre Lebenspraktiken gestalten, sodass sie einen individuellen Weg zu einem modernen und lebenswerten „Ich“ finden.

Weshalb legen Sie Ihre Schwerpunkte dabei auf die Bereiche Musik, Religion und Medizin?

Prof. Raoul Motika
Prof. Raoul Motika

Die genannten Bereiche betreffen die Menschen unmittelbar in ihrem Lebensalltag, hier beginnt die Selbstermächtigung. Aufgrund der Omnipräsenz einer staatlich favorisierten Interpretation des Islams suchen Menschen beispielsweise nach individuellen religiösen Ausdrucksformen; auch das Interesse an fernöstlichen Religionen steigt. Die klassische Musik des Iran, die hoch entwickelt ist und komplexen Mustern folgt, wird im Kontext von Globalisierung und Digitalisierung ganz individuell weiterentwickelt. Und dann der intime Bereich der Medizinsoziologie: Der Iran zählt weltweit zu den führenden Ländern in der ästhetischen Chirurgie – körperliche Optimierungen sind an der Tagesordnung.

Neue Medien, Globalisierung, Migrationsbewegungen und Urbanisierung beeinflussen nicht nur den Iran, sondern Gesellschaften generell. Welche Relevanz haben kulturelle, soziale und religiöse Zusammenhänge gerade im Iran?

Seit der Revolution der Jahre 1978 bis 1980 hat sich dort ein politisch einzigartiges System etabliert, die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten: Gesetzgebung, Alltagsleben, Kunst und Kultur werden nach islamischen, teilweise aber auch nationalistisch basierten Vorgaben von staatlicher Seite gestaltet oder zumindest stark beeinflusst. Um diesen repressiven Entwicklungen zu entgehen, wanderten Millionen Iraner aus, etwa nach Kalifornien, Kanada oder Deutschland. So gibt es parallele kulturelle Entwicklungen bei regem Austausch und Wissenstransfer zu Verwandten und Freunden in der alten Heimat. Iranische Sängerinnen etwa dürfen in Deutschland zwar öffentlich auftreten und Konzerte geben, in ihrem Herkunftsland ist dies jedoch nicht gestattet. Das verändert die Wahrnehmung der Menschen.

Lassen Sie uns etwas tiefer in Ihre Forschung einsteigen. Sie untersuchen den Einfluss sozialer Medien auf unterschiedliche Aspekte der klassischen iranischen Musik. Bringen neue Trends im Cyberspace tatsächlich reale Veränderungen im Iran mit sich?

Ja, das gilt aber grundsätzlich. Auch in den USA oder Europa verändern sich durch Streaming-Dienste Gestaltung und Aufbau der Musik. In der traditionellen Musikkultur Irans handelt es sich in der Regel um längere Instrumentalstücke, die teilweise von Gesang begleitet sind. Werden Musikstücke aber über Online-Dienste – vor Ort sind Instagram oder Telegram führend – verbreitet, sind sie anders aufzubereiten. Innerhalb kurzer Zeit soll der Rezipient schließlich Gefallen finden und idealerweise „dran“ bleiben. Da Bilder die Musik begleiten, sollen Künstler und Instrumente möglichst attraktiv wirken – Präsentation, Aussehen, Style und Inszenierung werden bedeutsamer. Dadurch verändern sich nicht nur das Musikrepertoire, sondern auch die Lehr- und Lernmethoden.

Es ist im Iran noch immer umständlich und langwierig, Lizenzen für Konzerte oder Alben zu bekommen. Das Hochladen von Musikstücken funktioniert dagegen einfach und schnell. Was bedeutet dies für die Künstler, was für die Rezipienten?
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