Eine Gesellschaft in Bewegung

Instrumentalisiert und kontrolliert, einfallsreich und lebendig: Die iranische Zivilgesellschaft ist vielfältig. Das „Volunteer Activists Institute“ in Holland hat Situation und Perspektiven der Zivilgesellschaft im Iran erforscht. Iran Journal präsentiert eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieses  Forschungsprojektes.


Die Zivilgesellschaft im Iran hat verschiedene Facetten, sie ist nicht einheitlich und homogen. Das ist das Bild, das sich aus einer Untersuchung zivilgesellschaftlicher iranischer Organisationen (CSOs) ergibt, die das niederländische Volunteer Activists Institute im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführt hat. Die Forschungsphase des Projekts vom September 2017 bis Mai 2018 umfasste Organisationen wie Frauen-, Umwelt-und  Jugend-NGOs, NGOs zu Gesellschaftspolitik, Wohlfahrtsorganisationen, Gewerkschaften und Journalistenverbände. Das Ziel war, die aktuelle Situation der iranischen CSOs und die Herausforderungen und Einschränkungen, mit denen sie konfrontiert sind, zu klären sowie die Position der CSOs in der iranischen Gesellschaft, ihre Chancen und Risiken aufzuzeigen und vorherrschende Trends in der iranischen Zivilgesellschaft zu verstehen und ihre Zukunftsperspektiven darzustellen.

Drei Tendenzen

Dabei stechen drei Tendenzen hervor, in die sich die Organisationen der iranischen Zivilgesellschaft gliedern lassen. Zum einen ist ihre Instrumentalisierung, die etwa bei Rettungseinsätzen und Dienstleistungen sehr effizient ist. Hier gibt es sowohl traditionell strukturierte wie auch moderne Verbände, darunter Wohlfahrtsverbände sowie CSOs im Gesundheits- und Hygienesektor. Dieser Zweig der Zivilgesellschaft hat eine lange Geschichte im Iran und verfügt über eine umfangreiche soziale Basis. Diese Organisationen sind nicht politisch aktiv und passen sich in der Regel den Richtlinien und Programmen der Regierung an. Außerdem begünstigt die Regierung diesen Zweig und fördert seine Entwicklung und Ausbreitung.

Eine weitere Tendenz in der Situation zivilgesellschaftlicher Organisationen im Iran besteht in ihrer Nutzung als Herrschaftsinstrument. Die iranische Regierung nutzt die Zivilgesellschaft neben anderen repressiven Maßnahmen und ihrem ideologischen Apparat, um ihre Politik und Pläne zu legitimieren. Damit soll die unabhängige Zivilgesellschaft an den Rand gedrängt werden, um zivile Bereiche zu besetzen und die Regierungspolitik voranzutreiben. Gegenwärtig prägt diese Facette der Zivilgesellschaft weite Teile der Öffentlichkeit in der iranischen Gesellschaft.
Die dritte zivilgesellschaftliche Tendenz ist ihr Handeln als eine Kraft der Emanzipation und Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Dies basiert auf der Prämisse, dass die Zivilgesellschaft eine soziale Kraft für den Wandel ist, die auf den Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und Gewaltfreiheit beruht. Das ist das Gesicht einer Zivilgesellschaft, die sich ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bewusst ist. Hauptthemen dieser Facette der Zivilgesellschaft sind Demokratie, Menschenrechte und Friedensförderung. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Rechte der Bürger und Gewerkschaften zu schützen und solidarisches Leben in der Gesellschaft voranzubringen.

Traditionelles Straßentheater für Kinder, organisiert von der NGO Vira in der iranischen Stadt Ilam
Traditionelles Straßentheater für Kinder, organisiert von der NGO Vira in der iranischen Stadt Ilam

 
Entwicklung der Zivilgesellschaft unter Rouhani

Unter der Regierung Rouhani entwickelt sich die Zivilgesellschaft von oben nach unten und wird als technisches Instrumentarium zur Beherrschung und Weiterentwicklung der Regierungspolitik genutzt. Infolgedessen ist eine steigende Zahl zu diesem Zweck  instrumentalisierter CSOs in Bereichen wie Frauen, Jugend und Umwelt zu verzeichnen, während die Gründung von Verbänden und Gewerkschaften oder unabhängigen sozialen Bewegungen für Frauen, Studenten oder Arbeitnehmer verboten ist. Mit anderen Worten: Die Zivilgesellschaft wird nicht als eine soziale Kraft akzeptiert, die den Wandel und die Transformation vorantreibt. Wie die Regierungen vor ihr verfolgt die Regierung Rouhani zwei Hauptstrategien gegen die unabhängige Zivilgesellschaft: Unterdrückung und Marginalisierung sowie die Ersetzung unabhängiger CSOs und Vereinigungen durch regierungskonforme.

Einmischung der Regierung

Die größte Herausforderung für iranische CSOs ist der Mangel an Autonomie und Freiheit, um Verbände und zivilgesellschaftliche Organisationen im Iran zu gründen und zu betreiben, sowie die Einmischung der Regierung in jedes ihrer Verfahren, wodurch ein funktionierendes Vereinsleben blockiert wird. Mit legalen und illegalen Mechanismen blockiert die Regierung die Aktivitäten, ihren Zugang zum freien Informationsaustausch und die Meinungsfreiheit und gewährt Bürger*innen und Verbänden kein Recht auf öffentliche Versammlungen oder Demonstrationen.
Die Rechtsordnung der Islamischen Republik Iran ist ein präventives System, das gesellschaftliches Handeln von einer Genehmigung abhängig macht. Bürger*innen müssen bestimmte Regeln einhalten, bevor sie ihre Rechte und Freiheiten wahrnehmen können. Für CSOs bedeutet dieses System, dass die Bürger*innen zwei Voraussetzungen erfüllen müssen, damit CSOs den Status einer juristischen Person erlangen können: Sie müssen eine Genehmigung der zuständigen Behörden erhalten und die CSO bei der nationalen Meldebehörde für Unternehmen und nicht-kommerzielle Organisationen registrieren lassen. Der erste Schritt ist Voraussetzung für den zweiten, der den staatlichen Institutionen die Möglichkeit eröffnet, die Einrichtung und den Betrieb von CSOs zu manipulieren und zu beeinträchtigen.

Eine neue Generation von Aktivist*innen
Fortsetzung auf Seite 2