Von einer Sonne zur nächsten
In den Sozialen Netzwerken des Iran wird immer deutlicher und von immer mehr Iraner*innen Kritik an überkommenen Normen und Werten der Islamischen Republik geübt. Und manchmal zeigt diese Kritik Wirkung. Das gibt Hoffnung auf Veränderungen, sagt der Dichter und Übersetzer Maziyar Roozbeh*.
In einer Zeit, in der die Iraner*innen am schrittweisen Verschwinden ihres Vermögens und Einkommens verzweifeln, erleben Gesellschaft und Politik im Iran Ereignisse, die neu sind und Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. Seit Juni gibt es eine große Kampagnen gegen „Ehrenmorde“ und sexuelle Gewalt, letztere „iranische MeToo-Aktion“ genannt. Ende August enthüllte eine im Ausland lebende iranische Journalistin mit beispielhaftem Mut sexuelle Übergriffe eines prominenten iranischen Künstlers. Diese Enthüllung entwickelte sich zum Ausgangspunkt in Richtung einer Abschaffung der Grenzen zwischen „privat“ und „öffentlich“ in der Kultur, der Kunst und den Traditionen des Iran.
Worum ging es? Sara Omatali hatte in einem Tweet behauptet, der renommierte Künstler Aydin Aghdashloo habe sie sexuell belästigt. Das war der Beginn des Bruchs eines historischen und anhaltenden Schweigens iranischer Mädchen und Frauen, die nun ihre persönlichen Geschichten über sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen in der persischsprachigen Netzcommunity veröffentlichen – hauptsächlich auf Instagram und Twitter.
Ich als ein – meines Erachtens relativ fairer – iranischer Mann freue mich darüber und verbeuge mich voller Respekt vor diesen Frauen, die ihren verlorenen Mut wiedergefunden haben und ihre Geschichten erzählen. Ohne Soziale Netzwerke hatten ihre und unsere Mütter und Großmütter keinerlei Möglichkeit, ihre Stimmen zu erheben und ihre Geschichten zu erzählen – selbst wenn die älteren Generationen den Mut zum Bruch solcher Tabus gehabt hätten.
Schnelllebigkeit der Sozialen Netzwerke
Gar keine Frage, auch wir Iraner*innen leben wie der Rest der Welt in einer Zeit politischer und kultureller Umbrüche, in Zeiten von wellen- und sturmartigen Aktionen und Reaktionen in den Sozialen Netzwerken. Heute beginnt auch der Iraner seine Woche mit einem Trend und beendet sie mit einem anderen. Kann man so eine fundamentale Veränderung bei den Gesetzgebern und Rechtsgelehrten in der Islamischen Republik herbeiführen? Nein. Aber vergessen wir nicht, dass diese wellenartigen und stürmischen Aktionen in den Sozialen Netzwerken bereits die Leben einiger unschuldiger Menschen, die kurz vor der Hinrichtung standen, gerettet haben. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Hashtag „Stoppt Hinrichtungen“ – ein Hashtag, der bis zum Verfassen dieses Artikels die Exekutionen dreier junger Protestierenden des Novembers 2019 vorläufig gestoppt hat. Die drei Männer waren unter den absurden Vorwürfen „Vorgehen gegen die nationale Sicherheit“ und „bewaffneter Raub“ angeklagt und verurteilt worden.
Einige meinen, dass die Tweetwellen mit diesem Hashtag „die größte virtuelle Demonstration gegen die Islamische Republik“ in ihrer 40-jährigen Geschichte sei.
All das habe ich beschrieben, um behaupten zu können, dass die iranische Zivilgesellschaft zumindest in dieser Hinsicht fortschrittlich und zeitgemäß agiert. Wenn ein persischer Hashtag etwa elf Millionen mal auf Twitter wiederholt wird, kann man die Hoffnung haben, dass sich diese „virtuellen Solidaritäten“ zu echten Solidaritätskundgebungen auf den Straßen wandeln. Die Achillesverse solcher virtuellen Protestaktionen, die freie Meinungsäußerung und Kritik an den Herrschenden, aber auch mutige Enthüllungen von Vergewaltigungen erlauben, sind die Zensur beziehungsweise das Stören der Internetverbindung seitens des Regimes.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Islamische Republik Iran während der blutigen Ereignisse im Oktober und November 2019 das Internet für einige Tage gekappt hatte, damit die Welt die Stimmen der Hungernden und Verzweifelten im Iran nicht hören kann.
Zwei vergessene Verbrechen
Erster Fall: Im Frühsommer 2016 berichteten einige Medien über angebliche sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen eines bekannten Koranlehrers namens Said Tussi. Tussi, der dem Verwaltungsbüro des religiösen Oberhaupts Ayatollah Ali Khamenei nahesteht, wurde vorgeworfen, sich an jungen Koranschülern unter 16 Jahren vergangen zu haben. Später stellte sich heraus, dass diese Taten bereits 2011 geschehen waren. Die Familien der Opfer hatten erst nach fünf Jahren davon berichtet, einige von ihnen hatten detaillierte Informationen an persischsprachige Medien im Ausland weitergeleitet.
Nach diesen Enthüllungen wurde Said Tussi hinter verschlossenen Türen vor Gericht gestellt, im Winter 2017 aber durch Einflussnahme von Funktionären mit Verbindungen zu Khameneis Verwaltungsbüro freigesprochen. Der damalige Parlamentsabgeordnete Mahmud Sadeghi twitterte: „Trotz drei betroffenen Klägern wurden die Anschuldigungen auf Berührungen und vulgäre Späße reduziert, und das Gericht sah diese nicht als Verbrechen an.“ Auch dieser höchst polarisierende Freispruch stieß in den Sozialen Medien auf heftige Kritik. Das Gericht betrachtete das Verfahren jedoch als abgeschlossen. Und heute spricht kaum noch jemand davon.
Zweiter Fall: Im Juni 2020 erregte der Mord an der 14-jährigen Romina Ashrafi Aufsehen. Ihr Vater hat sie mit einer Sichel enthauptet, weil sie mit ihrem Freund von zuhause geflüchtet war. Er hatte sich vor der Tat von einem Rechtsanwalt beraten lassen und wusste daher: Für den Mord an seiner Tochter muss er nur wenige Jahre ins Gefängnis, tötet er ihren Freund, würde er hingerichtet. Also tötete er Romina – um „die Ehre“ der Familie zu retten.
Sobald über diesen Mord berichtet wurde, überfluteten Mitgefühl, Zorn und Schmerz die persischsprachige Netzcommunity. Diese enormen Reaktionen kamen etwa 50 Tage vor der Bewegung “Me Too” im Iran. Im Juni ereigneten sich noch weitere acht “Ehrenmorde“. Auch da wurde protestiert und wurden die gleichen Hashtags in den Sozialen Netzwerken benutzt, doch milder.
Solche Verbrechen erlaubt das frauenfeindliche islamische Strafrecht. Nach ihm können Väter, Großväter oder Urgroßväter ihren Kindern praktisch alles antun, ohne sich um die Konsequenzen Sorgen machen zu müssen.
Doch die iranische Gesellschaft bleibt dem gegenüber nicht tatenlos. Wenn sie auf zwei schmerzhafte Ereignisse im Abstand von zwei Monaten derart offensiv reagiert, gibt das Hoffnung. Hoffnung auf weitere aufklärerische Schritte.
Wir sind am Anfangspunkt eines langen Weges mit dem Ziel, einige Begriffe, die diskriminierende gesellschaftliche Werte beschreiben, loszuwerden: etwa „Ehre“, „Scham“, „Keuschheit“, „Jungfräulichkeit“ und dergleichen.
Ich habe im Titel des Artikels das Wort „Sonne“ verwendet – denn solche Aktivitäten werfen Licht auf die dunklen Normen meiner Gesellschaft. Viel Licht.♦
*Maziyar Roozbeh ist ein Pseudonym, um den Autor zu schützen. Der Publizist, Dichter und Übersetzer lebt in Teheran.
© Iran Journal
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