„Unsere Gesellschaft hat zwei Gesichter“

Interview mit der Rechtsanwältin, Dichterin und Menschenrechtsaktivistin Giti Pourfazel.

Letztes Jahr um diese Zeit hat ein offener Brief im Iran großes Aufsehen erregt. Darin hatten 14 politische und zivilgesellschaftliche Aktivistinnen die Islamische Republik als ein „frauenfeindliches System“ bezeichnet und für eine neue Verfassung des Landes plädiert. 

Kurz darauf wurden einige der Unterzeichnerinnen verhaftet. Giti Pourfazel war eine von ihnen. Sie wurde nach drei Monaten auf Kaution freigelassen.

Im Mai 2020 veröffentlichte Pourfazel zwei offene Briefe. Im ersten Brief nimmt sie Stellung zur Rolle der iranischen Intellektuellen vor dem Hintergrund der islamischen Revolution im Iran. Der zweite Brief ist ein sehr persönliches Bekenntnis über ihr Leben als Frau und Anwältin in der Islamischen Republik Iran.
Kilian Förster hat sich vor einiger Zeit mit der Rechtsanwältin und Dichterin unterhalten*

Frau Pourfazel, welche Bedeutung hatte die Religion in Ihrer Kindheit und Ihrem Elternhaus?

Giti Pourfazel: Die Religion spielte in meiner Familie keine so bedeutende Rolle. Nur meine Großmutter war sehr religiös. Deswegen fanden bei uns zu Hause auch keine Feiern wegen religiöser Traditionen statt, wie zum Beispiel die  traditionelle Trauerfeier für Imame, Rouzeh.

Hat sich Ihr Verhältnis zur Religion infolge der Islamischen Revolution im Iran verändert?

Ich hatte von Anfang nicht so eine enge Verbindung zur Religion. Erst im Laufe meines Jurastudiums habe ich mich stärker mit den religiösen Gesetzen auseinandergesetzt. Im Studium habe ich gelernt, wie die Scharia funktioniert und ich habe damals nie gedacht, dass diese persönlichen Dinge einmal Platz in unserer Gesellschaft finden würden und die Führung des Landes nach diesen Gesetzen funktionieren könnte.

 14 Frauen, die den islamischen Staat herausforderten: Nosrat Beheshti, Shahla Entessari, Giti Fazelpour, Shahla Jahanbin, Zahra Jamali, Ezzat Javadi-Hessar, Farangis Mazlum, Narges Mansouri, Kimia Nouruzi-Saber, Parva Pachideh, Fatemeh Sepehri, Maryam Soleymani, Sussan Taherkhani, Fereshteh Tasvibi

14 Frauen, die den islamischen Staat herausforderten: Nosrat Beheshti, Shahla Entessari, Giti Fazelpour, Shahla Jahanbin, Zahra Jamali, Ezzat Javadi-Hessar, Farangis Mazlum, Narges Mansouri, Kimia Nouruzi-Saber, Parva Pachideh, Fatemeh Sepehri, Maryam Soleymani, Sussan Taherkhani, Fereshteh Tasvibi

Sie arbeiten als Anwältin in einem Land, dessen Rechtssystem auf der Scharia basiert. Würden Sie sagen, dass die Scharia mit den Menschenrechten vereinbar ist?

Wie kann man so denken, dass eine Tora oder eine Bibel, die vor 2000 Jahren geschrieben wurde, oder der Koran, der vor 1400 Jahren geschrieben wurde, mit der heutigen Zeit vereinbar sind?
1979 haben unsere religiösen Kräfte behauptet, dass beides vereinbar sei und sie konnten so etwas behaupten, weil die iranische Bevölkerung damals noch sehr religiös eingestellt war. Aber den Menschen wurde schnell klar, dass diese Vereinbarung so nicht machbar ist. Aus diesem Grund hat man versucht, die Scharia an andere Gesetze anzupassen, zum Beispiel im Finanzbereich. Oder im Lebensmittelbereich: Der Stör, der den Kaviar produziert, war nicht halal (nach islamischem Recht erlaubt), weil er keine Schuppen hat, deshalb wurde dafür eine Fatwa erlassen. Oder auch Schauspielerei war zunächst haram (nicht erlaubt) und wurde erst später zugelassen.
In diesem Sinne wurden Teile der Scharia-Gesetze also flexibel gemacht, um sie der Wirklichkeit anzupassen. Aber wenn man alle Scharia-Gesetze auch angepasst hätte, dann wäre das Rechtssystem noch besser geworden. Allerdings sind unsere Geistlichen nicht mutig genug, solche Reformen und Änderungen durchzuführen. Nur in dem Fall, dass alle Scharia-Gesetze an die heutigen Gesetze angepasst würden, wären sie mit den Menschenrechten vereinbar. Doch die Geistlichen, die diese Gesetze schreiben, müssten dafür auch bereit sein. Allerdings haben zehn Geistliche zehn verschiedene Meinungen. Und weil es verschiedene Interpretationen der Gesetze gibt, könnte man die alten Gesetze an die heutige Zeit anpassen.

Warum hat Ajatollah Khomeini als politischer und religiöser Führer der islamischen Revolution anfangs gerade unter Frauen so viel Zustimmung erfahren?

Weil das, was er zuerst aus seinem Exil in Frankreich versprochen hatte, zum Beispiel gleiche Rechte auch für Frauen, zunächst nichts Schlechtes war. Und alle haben seinen Worten geglaubt, auch Akademiker.

Mit welchen Schwierigkeiten von staatlicher Seite sind Sie bei Ihrer Arbeit als Anwältin im Iran konfrontiert?

Nach der Revolution 1979 war ich für eine Weiterbildung mit meinem Mann und meinen Kindern zunächst in Frankreich. Als ich wieder in den Iran zurückkam, bemerkte ich, dass sich viele Gesetze aufgrund der Scharia verändert hatten, zum Beispiel im Familienrecht war nun die Ehe mit vier Frauen oder die Zeitehe (Sigheh) möglich. Ich habe damals sofort reagiert und mich gegen diese Änderungen ausgesprochen.
Aus diesem Grund hatte ich 14 Jahre lang keine Erlaubnis, als Anwältin im Iran tätig zu sein. Erst mit der Gründung einer Anwaltskammer durfte ich wieder arbeiten, da es für mein Arbeitsverbot kein Gesetz gab und ich auch nicht als politische Anwältin aktiv war, denn ich war immer nur im Bereich des Zivilrechts tätig. Ich war eine von mehreren Anwälten, denen die Arbeitserlaubnis entzogen wurde.

Welcher Ihrer Fälle, den Sie als Anwältin vertreten haben, hat Sie am meisten berührt?
Fortsetzung auf Seite 2