Historischer Hilferuf in Corona-Zeiten

Wenige Stunden bevor Ayatollah Aaarafi seinen Hilferuf an den sunnitischen Mufti in Kairo schickte, hatte Soroush der persischen Webseite Zeitoon ein spektakuläres Interview gegeben, das seitdem in vielen religiösen und nicht religiösen Zirkeln für Furore sorgt. Allein der Titel des Interview ist sensationell: „Nicht für alles ist Gott brauchbar“. 

Ein provokanter Satz in einer Zeit, in der die Geistlichkeit permanent zum Gebet gegen Corona aufruft und sich vehement gegen Schließungen der heiligen Stätten stellte.

Soroush stellt in dem aufsehenerregenden Interview nicht nur die Allmächtigkeit Gottes in Frage, er geht noch weiter. Sehr weit. Nicht nur die Schiiten, alle Muslime und vor allem ihre Theologen müssten ihre Vorstellung vom Bösen revidieren, sagt Soroush. Im Gegensatz zu Christentum und Judentum beschäftigen sich islamische Theologen kaum mit dem Komplex Gott/das Böse. Für Muslime ist das Böse dem Teufel vorbehalten, Gott dagegen war, ist und bleibt immer barmherzig.

Im Christentum ist Jesus Gott und Mensch zugleich und wird schließlich von Menschen grausam getötet. Er leidet für seine Mitmenschen, die ihm Böses angetan haben. Das Böse und das Göttliche scheinen im Christentum konstitutiv zu sein.

Christliche Theologen können deshalb den Disput über das Böse nicht ignorieren. Die Gottesvorstellung des Judentums steht zwar der des Islam sehr nahe, doch hat das Menschheitsverbrechen, der Holocaust, dazu geführt, dass sich auch die jüdischen Theologen der Frage des Bösen annehmen mussten.

Doch der traditionelle Islam beharrt in der Dualität, der scharfen Trennung von Gott und dem Bösen. Diese Sicht birgt Zweifel in sich, vor allem, wenn in Krisen- und Katastrophenzeiten die Verwalter der Religion auch die weltliche Macht innehaben.

Abdolkarim Soroush: Alle Muslime müssen ihre Vorstellung vom Bösen revidieren
Abdolkarim Soroush: Alle Muslime müssen ihre Vorstellung vom Bösen revidieren

Ketzerische Fragen

Warum läßt Gott dann so viel Unheil wie Corona und andere erbarmungslose Katastrophen zu? Wie brutal muss ein solcher Gott sein, der die Welt mit so viel Leid und Schmerz überzieht, nur um die sündigen Menschen zu prüfen? Das Soroush-Interview ist bahnbrechend, es hat eine grundsätzliche Diskussion unter schiitischen Gelehrten ausgelöst.

Und je mehr sich die Geistlichkeit um eine theologische Erklärung der Corona-Krise bemüht, um so mehr häufen sich dieser Tage ketzerische Fragen auf persischen Webseiten.

Viele Gedanken und Geistesblitze sind ernsthaft, andere ironisch und satirisch. Zwei Beispiele: „Ich frage den Arzt, warum Corona vor allem über 60-Jährige anfällt. Das sei der Lohn für ihre islamischen Revolution, antwortete der Doktor.“  Oder: „Ich werde bei der nächsten Wahl Corona wählen, denn das Virus hat für weniger Autoverkehr und saubere Luft gesorgt, die Kinder geschont, Gefangene befreit, die Unfähigkeit mancher Herren offenbart, das Erdöl verbilligt, Hotel- und Flugpreise gesenkt, den Eltern gezeigt, wie wertvoll Lehrer sind, und bewiesen, dass die heilige Stadt Qom gar nicht heilig ist.“♦

© Iran Journal

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