Historischer Hilferuf in Corona-Zeiten

Bei dem besonderen Hilferuf aus der iranischen Pilgerstadt Qom sind weder Medikamente noch Mediziner gefragt, auch nicht Geld oder Krankenhausausrüstung. Nein, es geht ums Ganze: um die Gottesrettung, genauer gesagt um die Rettung Allahs.

Von Ali Sadrzadeh

Das Virus vernichtet nicht nur Körper. Es gefährdet in diesen Tagen auch Geist und Glaube. Deshalb sollen alle anpacken, jenseits aller Unterschiede. Die Bedrängnis scheint so groß, dass jede Hilfe willkommen ist. Auch wenn sie von Gegnern oder gar Feinden kommt.

Die Größe der Bedrückung, die Stärke der Bedrängnis kann man ahnen, wenn man sich ansieht, wer wen zur Hilfe ruft. Denn Rufender und Gerufener sind nicht irgendwer: Der Rufende ist Ayatollah Alireza Aarafi aus der iranischen Stadt Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, und der Gerufene ist Scheich Ahmad Al Tayeb, Rektor der Al-Azhar-Universität in der ägyptischen Hauptstadt Kairo, der wichtigsten religiösen Autorität des sunnitischen Islam.

Der allmächtige Obermissionar

Der Schiit Aarafi ist Chefmissionar der Islamischen Republik. Er ist offiziell der oberste Manager aller schiitischen Lehrseminare des Landes. Als Leiter von حوزه های علمیه ( den schiitischen Lehrseminaren) ist er zuständig für die Ausbildung von Hunderttausenden schiitischen Geistlichen, die den politischen Islam gemäß der Verfassung in allen Bereichen der iranischen Gesellschaft in die Praxis umsetzen müssen. Der Justizapparat, das Geheimdienstministerium und alle wichtigen Kulturinstitutionen des Landes werden von Geistlichen geleitet, weil die Verfassung dies vorschreibt. Und alle diese Institutionen benötigen geistliche Bürokraten.

Ayatollah Alireza Aarafi (re.) und Scheich Ahmad Al Tayeb
Ayatollah Alireza Aarafi (re.) und Scheich Ahmad Al Tayeb

Darüber hinaus werden alle Schlüsselpositionen in den iranischen Ministerien sowie den diversen Geheimdiensten und Sicherheitsorganen des Landes von Absolventen dieser Lehrseminare besetzt. Aarafi überwacht aber nicht nur die Ausbildung der Missionare und künftigen Bürokraten. Er gehört auch dem sogenannten Wächterrat an, jenem zwölfköpfigen Gremium, das alles, was das iranische Parlament beschließt oder die Regierung tut, auf seine Islamtauglichkeit hin überprüft. Außerdem ist der 60-Jährige Mitglied des Expertenrates, der den künftigen Revolutionsführer bestimmt. Zudem gilt Ayatollah Aarafi als Kopf und Organisator jener Universität in der Stadt Qom, in der auch ausländische Missionare ausgebildet werden. Derzeit studieren 30.000 Seminaristen aus 120 Ländern im Iran, 700 von ihnen stammen aus China.

Es würde zu weit führen, wollte man noch alle anderen Gremien und Zirkel aufzählen, in denen Aarafi ebenfalls eine führende Rolle spielt.

Der sunnitische Adressat

Sein Adressat, der ägyptische Mufti in Kairo, mag in seinem Land nicht so mächtig sein wie der Ayatollah im Iran. Doch ist er genau der richtige Mann für den Hilferuf aus Qom. Großmufti Al Tayeb hat kraft seines Amtes den protokollarischen Rang eines Ministerpräsidenten. Er ist auf Lebenszeit Rektor der Al-Azhar-Universität, nur der Republikpräsident kann ihn abberufen.

Viel wichtiger aber ist, dass der Großscheich in Kairo in der altehrwürdigen Al-Azhar-Universität ebenfalls Missionare ausbildet, nur eben sunnitische. Er ist also der richtige Empfänger jenes Brandbriefes, der am 1. April in Qom veröffentlicht wurde.

Corona als Hiobsbotschaft
Fortsetzung auf Seite 2