Der Virus und der Glaube

Die „heilige“ Stadt Qom, das Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, ist der Ausgangspunkt der Corona-Epidemie im Iran. Die Ayatollahs wehrten sich vehement und erfolgreich gegen eine Quarantäne, rasant verbreitete sich der Virus deshalb im ganzen Land. Doch Corona ist nicht die Pest, der Iran nicht im Mittelalter und der Virus nicht die Strafe Gottes. 

Von Ali Sadrzadeh

Allmächtig und allgegenwärtig: In rasender Geschwindigkeit hat der neuartige Coronavirus im Iran alles beseitigt, was den islamischen Staat ausmacht: Freitagspredigten, Pilgerfahrten, Moscheebesuche, Trauerveranstaltungen, die Seminare der Ayatollahs und die staatlich organisierten Straßenumzüge, religiöse wie politische. Dabei ist die Islamische Republik ohne diese symbolträchtigen Massenveranstaltungen gar nicht denkbar, quasi nicht mehr existent, jedenfalls nicht so, wie sie sich uns 41 Jahre lang präsentierte. Auch die Geistlichen sind aus dem Straßenbild verschwunden. Sie sind entweder in häuslicher Quarantäne oder im Krankenhaus.

Seit vergangenem Sonntag sorgt ein YouTube-Clip für Furore: Am Flughafen der Insel Kish im Persischen Golf demonstriert eine Menschenmenge gegen die Ankunft von 300 Mullahs aus der Stadt Qom, die dem Virus entfliehen und auf der warmen Insel Zuflucht suchen wollen.

Der Virus am heiligen Ort

Denn Qom, die „heilige“ Stadt, Pilgerziel von jährlich zwanzig Millionen Gläubigen, ist Ausgangspunkt der Corona-Epidemie im Iran. Die ersten beiden Corona-Toten stammten aus Qom. Wochenlang tauchten in den sozialen Medien Bilder und Meldungen auf, die zeigten, wie sich der Virus in der Stadt rasend ausbreitete. Reisende aus Qom berichteten über volle Wartezimmer und überlastete Krankenhäuser in der Stadt.

Die erste offizielle Reaktion: All das seien Fake News und Machenschaften der Feinde, die den Islam besudeln wollten. Ausgerechnet Qom, das Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, solle der Hotspot der Corona-Epidemie sein, die Plage an diesem Hort der Heiligkeit begonnen haben? Unmöglich, undenkbar. Eine solche Lüge könnten nur die Feinde der Islamischen Republik erfunden haben, sie komme einer Beleidigung gleich, die gegen Glaube, Gott und Gewissen gerichtet sei. Doch Dementi hin, Heiligkeit her: Qom hat im Iran inzwischen einen ähnlichen Stellenwert wie die Provinz Wuhan in China. Eine brisante Angelegenheit, politisch wie religiös. 

Schilder, die auf die Mängel im Land hinweisen: "Wir haben keine Schutzmasken, Desinfektionsgele und Alkohol-Sprays"
Schilder, die auf die Mängel im Land hinweisen: „Wir haben keine Schutzmasken, Desinfektionsgele und Alkohol-Sprays“

Seminaristen aus aller Welt, China eingeschlossen

Qom mag heute Brenn- und Mittelpunkt der Corona-Epidemie sein. Doch die Stadt war und bleibt einstweilen der Ort, wo das Herz des politischen Schiitentums schlägt. Ayatollah Ruhollah Khomeini lehrte jahrzehntelang in dieser Stadt. In Qom nahm die islamische Revolution ihren Lauf, und hier werden heute jene Geistlichen ausgebildet, die die Schlüsselpositionen in der Islamischen Republik innehaben. In Qom studieren 40.000 ausländische Seminaristen die schiitische Theologie. Sie sollen später als Missionare in ihren Heimatländern für den schiitischen Islam werben und, wenn nötig, auch kämpfen. 700 von ihnen kommen aus China. In Qom ist die Seele der Islamischen Republik zuhause.

Dass die Bewohnerinnen und Bewohner einer solchen Stadt von einer derart schrecklichen Plage heimgesucht werden – das würde Gott doch niemals zulassen. Am 17. Februar trat Gholamerza Jalai in der Uniform der Revolutionsgarde vor die Fernsehkameras, referierte über die gottgegebene Immunität der heiligen Stadt und dementierte kategorisch alles, was bereits an diesem Tag ein offenes Geheimnis war: Es gäbe weder in Qom noch sonstwo im Land einen einzigen Coronafall. Jalai musste es wissen: Er ist Chef des iranischen Zivilschutzes. Doch die Zeit der Lüge und des Leugnens dauerte nicht lang.

Der Virus besiegt die Lüge

72 Stunden später meldete der Vize-Gesundheitsminister den Tod von zwei Corona-Infizierten in Qom. Drei Tage später waren es bereits 12 Tote, aber nur 47 Infizierte. Niemand glaubte diesen Zahlen. Am selben Tag sagte Assadollah Abasssi, Abgeordneter aus Qom, vor Journalisten, er habe persönlich die Namen von 50 Corona-Toten an den Vizeminister gegeben. Der entgegnete, Abassi solle beweisen, dass diese Toten tatsächlich am Coronavirus gestorben seien. Der Vizeminister ist inzwischen aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil er selbst mit dem Virus infiziert ist.

Wie auch immer: Das Lügengespinst um den Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine durch die iranische Revolutionsgarde am 8. Januar hatte nur drei Tage gedauert. Das Corona-Märchen dauerte mehrere Wochen. Der Grund: Zum einen gab es keinen Druck aus dem Ausland. Zum zweiten hatten die Machthaber in dieser Zeitspanne zwei wichtige Termine zu absolvieren, für die organisierte Menschenmassen notwendig waren: den 9. Februar, Jahrestag der Revolution, und die Parlamentswahlen am 21. Februar.

Man stellt Gott nicht unter Quarantäne
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