Die Angst und Hoffnung der Iraner:innen nach Haniyehs Tod
Die meisten Einwohner:innen der iranischen Hauptstadt fürchten sich vor einem Angriff des Iran auf Israel. Denn dadurch würde ein direkter Krieg zwischen beiden Ländern näher rücken. Es gibt aber auch viele, die in einem solchen Krieg die Chance zum Sturz des Regimes sehen. Die Aktivistin Afra hat sich in Teheran umgehört.
Nach dem staatlichen Mord an Jina Mahsa Amini in Teheran sind die U-Bahn und der öffentliche Nahverkehr der iranischen Hauptstadt zu einem runden Tisch geworden, an dem über wirtschaftliche und politische Themen gesprochen und zum Teil heiß diskutiert wird. Immer mehr Menschen trauen sich, ihre Meinung ohne Angst vor den Sicherheitsbehörden des Regimes zu äußern.
Seit dem Tag der Ermordung von Hamas-Chef Ismail Haniyeh in Teheran spekulieren die Menschen auf den Straßen und Basaren, in Freundeskreisen und bei der Arbeit über den Grund für seine Ermordung und die Folgen dieses Anschlags. Aus den Worten und den Outfits derjenigen Teheraner:innen, die über den Tod des palästinensischen Politikers traurig sind, geht klar hervor, dass sie Regime-Anhänger:innen sind. Der Rest ist entweder schadenfroh oder gleichgültig.
Der Grund für die Freude eines Teils der Bevölkerung ist die Unterstützung der Hamas durch das islamische Regime. Die Mehrheit der Menschen hat bei den jüngsten Wahlen gezeigt, dass sie gegen die Politik des Obersten Führers der Islamischen Republik, also des gesamten islamischen Regimes sind. Bei verschiedenen Gelegenheiten zeigen sie ihre Abscheu gegen die Islamische Republik, darunter auch die Ablehnung all dessen, was das Regime gutheißt oder propagiert. Die freudige oder gleichgültige Reaktion auf Haniyehs Tod muss in diesem Kontext bewertet werden.
Natürlich sind fast alle Teheraner:innen, die ich getroffen habe, besorgt über einen möglichen Krieg mit Israel; nur eine Minderheit der Menschen ist für einen Krieg. Diese gehören zwei Gruppen an: den islamischen Hardlinern, die wirklich glauben, durch einen Krieg den Staat Israel zerstören zu können, und denjenigen Regimegegner:innen, die hoffen, durch einen Angriff von außen und mit Hilfe der unzufriedenen Iraner:innen das Regime zu stürzen.
Im Supermarkt
In einem kleinen Supermarkt im Westen Teherans: Während der Ladenbesitzer die Ware in eine Tüte packt, sind hinter ihm die Nachrichten im Fernsehen zu sehen. Die Kundin, eine Frau mittleren Alters, schüttelt den Kopf beim Hören des Namens Ismail Haniyeh und bewertet seine Tötung als ein „neues Spiel“, in dem „nutzlose Terroristen“ eliminiert würden. Sie glaubt, dass Haniyeh als eine Figur in diesem Spiel genug gedient hatte und zerstört werden musste. Der Ladenbesitzer ist besorgt, weil der Hamas-Führer in Teheran und nicht an seinem Wohnort in Katar getötet wurde. Er glaubt, das iranische Regime werde auf seine Tötung reagieren und Israel werde wiederum auf die Antwort des Iran reagieren – ein „teuflischer Kreislauf“ werde beginnen.
Die Frau ist überzeugt: Haniyeh sei gekommen, „um seinen iranischen Brüdern einen Sack mit Geld abzunehmen und zu gehen; das Geld unseres vom Regime erniedrigten Volks.“ Der Ladenbesitzer erinnert sie daran, dass ein Krieg zwischen der Islamischen Republik und Israel den Iran und einen Teil der Region weiter zerstören könnte. Die Frau erwidert: „Nein, junger Mann, es ist alles ein Spiel. Was ist letztes Mal passiert? Nach Israels Angriff feuerten die Mullahs einige Raketen ab, die alle abgefangen wurden. Und die Welt lachte uns aus. Das sind die Spiele der Regierungen Israels und des Irans. So helfen sie sich gegenseitig, denn so halten sie sich am Leben. Du schießt mir in die Hand und ich schieße dir in deinen Zeh. So sind wir Opfer und zugleich Helden.“
Der Verkäufer schaut sich vorsichtig um. Außer mir und einem Teenager ist niemand sonst in der Nähe. Er ist erleichtert. In diesen Tagen hat das iranische Regime so viel Angst vor der unzufriedenen Bevölkerung, dass es Agenten überall hin schickt; Agenten in Zivil in Einkaufszentren, Taxis, Cafés, Geschäften.
Treffen mit Freund:innen
Von Zeit zu Zeit treffe ich ein paar Freund:innen, darunter einige Journalist:innen, die nicht mehr arbeiten dürfen. Ich erzähle ihnen von dem Gespräch im Supermarkt. Wie die Supermarktkundin glauben zwei Journalistenfreunde, dass die häufigen Zusammenstöße zwischen dem Iran und Israel ein Demonstrationsbeispiel für ein komplexes Machtspiel sein könnten. Sie denken, dass Haniyeh zu einem Kompromiss mit Israel bereit war und deshalb von den Hardlinern habe beseitigt werden müssen. Ihre Vermutung scheint nicht grundlos zu sein: Am 6. August gab die Hamas bekannt, dass Yahya Sinwar zum Anführer der Terrorgruppe ernannt worden ist. Sinwar ist einer der radikalsten palästinensischen Politiker gegen Israel.
Einer der Journalisten ist sich sicher, dass die sogenannten Prinzipientreuen (islamische Hardliner im Iran – d. Redaktion) in diesem Mord verwickelt seien, weil sie die Präsidentschaftswahlen verloren hätten. „Sie wollen, dass der Iran direkt in den Krieg gegen Israel zieht“, ist er felsenfest überzeugt. „Sie glauben wirklich, dass andere Muslime in der ganzen Welt sich ihnen anschließen und gegen Israel kämpfen würden.“ Eine Freundin in der Runde unterstreicht seine Vermutung: „Die Sicherheitsbeamten haben die Aktivist:innen der Bewegung ‚Frau, Leben, Freiheit‘ auf den Demonstrationen unter zwei Masken identifiziert und ein paar Tage später verhaftet. Wie ist es möglich, dass jemand wie Haniyeh ermordet wird und sie immer noch verwirrt nach seinen Mördern und ihren Hintermännern suchen?“
In der U-Bahn und bei der Arbeit
In der U-Bahn sprechen zwei Personen über einen möglichen Krieg: Beide glauben, dass ein Krieg das Regime schwächen könne. Eine ältere Frau mischt sich ein: „Wenn es einen Krieg gibt, werden wir alle zusammen zugrunde gehen. Ihr seid jung und habt den Krieg nicht mit euren Augen gesehen oder erinnert euch nicht. Wir, die den achtjährigen Jahre Krieg mit dem Irak hinter uns haben, zittern sogar beim Hören des Wortes ‚Krieg’“. Eine Frau mittleren Alters ist anderer Meinung: „Die Israelis wollen nicht den Iran oder uns Iraner:innen vernichten. Der größte Feind des iranischen Volkes ist unsere Regierung. Selbst wenn es einen Krieg gibt, ist es ein Krieg zwischen den Mächten, und unser Volk wird dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen.“ Die ältere Frau wird wütend und schimpft auf alle „naiven Menschen“, die glauben, in einem Krieg würde das Volk nicht leiden.
An meinem Arbeitsplatz reden wir zu dritt über die Gefahr eines Krieges nach der Tötung des Hamas-Chefs. Einer meiner Kollegen, ein 40-jähriger Mann, hat eine interessante Meinung. Er betrachtet dessen Ermordung als Fortführung eines Planes, bei dem auch der iranische Ex-Präsident Ibrahim Raisi ums Leben kam. Er glaubt, in diesem Plan sei auch die Tötung weiterer wichtige Personen im Iran und in der Region vorgesehen: „Deshalb trägt Esmail Qaani, der Chef der Quds-Einheit (der Revolutionsgarde – d. Redaktion) und Nachfolger von Qassem Soleimani, bei all seinen Veranstaltungen und Besuchen kugelsichere Westen. Ich bin mir sicher, dass auch Khamenei jetzt um sein Leben bangt.“ Die Kleidung von Qaani war in letzter Zeit auch Gegenstand vieler Social-Media-Kommentare.
Viele Aktivist:innen der sozialen Netzwerke glauben, dass man Haniyehs Mörder in den obersten Rängen der Revolutionsgarde und Sicherheitskräfte suchen müsse. Dies wurde in den letzten Tagen auch von einigen ausländischen Medien, die iranische oder israelische Quellen zitierten, bestätigt.
Generation Z
Bemerkenswert ist die Reaktion der neuen Generation in der iranischen Hauptstadt auf die Tötung von Haniyeh – der sogenannten Generation Z.; eine Generation, die in den letzten zwei Jahren das Regime von Ali Khamenei und seinen Hardlinern erschüttert und die islamische Diktatur an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Man kann sagen, dass diese Generation von Iraner:innen den politischen Ereignissen um sie herum völlig gleichgültig gegenübersteht, insbesondere denen außerhalb des Landes. Für sie gehört Haniyeh zu den Ausländern, die sie gar nichts angehen.
Vielleicht hat die Müdigkeit der jüngeren Generation gegenüber negativen Nachrichten dazu geführt, dass sie diesem Terror weniger Aufmerksamkeit schenkt; vielleicht legt sie gar keinen Wert auf die Interessen des islamischen Regimes. Diese Generation führt ein Leben außerhalb aller Normen des politischen Systems. Eine Tatsache, die in naher Zukunft der Theokratie den Garaus machen könnte.♦
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