Das Land brodelt
Der Kampf der iranischen Frauen gegen den Schleierzwang ist viel älter als die revolutionäre Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“. Er begann schon weniger als einen Monat nach dem Sieg der islamischen Revolution von 1979 und hat jetzt einen neuen Höhepunkt erreicht. Ein Essay von Nasrin Bassiri.
Sechs Monate, nachdem Jina Mahsa Amini wegen eines nicht den iranischen Gesetzen entsprechen gebundenen Kopftuchs in Teheran festgenommen worden war und kurz darauf im Polizeigewahrsam den Tod fand, erklärte das iranische Innenministerium im März 2023: „Es wird keinen Rückzug in Sachen Hijab geben. Bei religiösen Prinzipien und Regeln, die auf traditionellen Werten basieren, gilt auch in Zukunft null Toleranz.“ Der Hijab, die islamischen Bekleidungsvorschriften, soll als unbestreitbare Scharia-Notwendigkeit der Islamischen Republik Iran für immer praktiziert werden.
Nach der Lesart des Ministeriums war der Hijab in den vergangenen Jahren Teil der „kognitiven Kriegsführung“ des „Feindes“ gegen die benachteiligte, aber starke Nation Iran. Doch könnten weder „konspirative Pläne“ wie die „weißen Mittwochs“ oder die „Frauen der Revolutionsstraße“ die „spirituelle Persönlichkeit der Frauen und Mädchen“ im Iran antasten.
Die sichtbarste Benachteiligung in der Islamischen Republik
Benachteiligung von Frauen gab es in der Islamischen Republik Iran immer. Das Heiratsalter wurde für Frauen von 18 auf 13 Jahre herabgesetzt. Mädchen gelten ab dem Alter von neun Jahren, Jungen erst mit 15 als strafmündig und sollen ihren „religiösen Pflichten“ nachgehen. Männer dürfen wieder vier Frauen gleichzeitig heiraten, die Familiengesetze der Vorrevolutionszeit wurden abgeschafft, das Strafrecht durch die Scharia ersetzt. Frauen verloren ihre Bedeutung in der Politik; in den ersten drei Parlamentsperioden gab es nicht einmal eine Handvoll weibliche Abgeordnete, ab der vierten Periode wurden beinahe zwei Handvoll ins Parlament gewählt. Heute sind es etwa 5 Prozent von 330 Parlamentsmitgliedern.
Vor 44 Jahren rief der revolutionäre Geistliche Ruhollah Chomeini die Iraner*innen dazu auf, am 31. März und am 1. April 1980 bei einem Volksentscheid für oder gegen die Islamische Republik zu stimmen. Am 2, April sollte das Ergebnis verkündet werden. Ich war wahlberechtigt. Bereits vor dem Volksentscheid hatten wir öfter gegen den Schleierzwang demonstriert – das erste Mal am 8. März, den Internationalen Frauentag, als Chomeini in einer Radioansprache angekündigt hatte, Frauen sollten künftig mit Kopfbedeckung auf der Straße gehen. Ich hatte seine Ansprache nicht gehört, weil ich krank war, die Demonstration aber bemerkt, als ich zum Arzt gehen wollte. Schulmädchen liefen in Schuluniformen und mit erhobenen Fäusten durch die Palaststraße, auch Frauen in mittleren Jahren mit Schleier waren dabei und riefen Parolen gegen den Kopftuchzwang. Für sie sei der Hijab keine Umstellung, sagten sie, aber ihre Töchter trügen kein Kopftuch und sie machten sich Sorgen, dass sie zu etwas gezwungen würden, was nicht einmal ihre Eltern wünschten. Die Palaststraße ist eine ruhige Straße in der Mitte von Teheran, in der damals die Mittelschicht lebte. Die Demonstration lief schnell, die Parolen klangen energisch – die Frauen waren wütend, und dennoch kann ich mich nicht an Zwischenfälle an dem Tag erinnern.
Später verliefen Demos gegen den Schleierzwang anders; junge Männer riefen den Teilnehmerinnen wütend zu: „Ja roosari ja toosari“ (frei übersetzt: entweder Kopftuch oder Schläge auf den Kopf). Ich kann mich auch an tätliche Angriffe mit Holzschlägern erinnern.
Anfänglich wurde die vorgeschriebene Bekleidung nur an Eingängen öffentlicher Einrichtungen, Schulen, Ministerien, Standesämter kontrolliert. Dort wurde ein kleiner Raum mit Vorhängen oder Trennwänden abgeteilt, durch den alle Frauen das Gebäude betreten mussten. Tief verschleierte Frauen nahmen dort jede Besucherin unter die Lupe. Nach den heftigen Protesten von Frauen war zunächst darauf verzichtet worden, den Schleier überall vorzuschreiben, doch im öffentlichen Dienst Beschäftigte oder Einkäuferinnen in staatlichen Supermärkten mussten die Vorschrift einhalten. Schminke wurde Dir mit einem Tuch von Gesicht abgewischt, wenn Deine Lippen gut durchblutet und rosafarben oder deine Wimpern lang waren, wurde mit einem weißen Taschentuch kontrolliert: Trägst Du Lippenstift? Ich sehe Spuren von Wimperntusche. Manche Frauen verzichteten darauf, ihrem Beruf nachzugehen, oder überließen die Einkäufe einem männlichen Familienmitglied.
Als die islamische Kleiderordnung auch auf der Straße zur Pflicht erklärt wurde, kontrollierten die Sittenwächterinnen die Frauen auf der Straße. Wenn ihre Ärmel nur einige Zentimeter Handgelenk zeigten, mussten sie ein Formular unterschreiben, auf dem es hieß: „Ich verspreche, mich in der Zukunft nicht mehr zu prostituieren.“ Manche Hausfrau, Bibliothekarin oder Ärztin wurde mit einem Schild vor der Brust fotografiert, auf dem zu lesen war: „Prostituierte zweiten Grades“. Es wurde angedroht: „Wenn wir Dich noch einmal mit einem durchsichtigen Schal erwischen, werden wir das Foto veröffentlichen.“ Frauen, die Lippenstift oder Nagellack aufgetragen hatten, erwarteten ähnliche Strafen.
Folter wie im Mittelalter
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