Atomdeal mit dem iranischen Regime:
Realpolitik oder Ohrfeige für die Freiheitsbewegung?

Sollte der Westen das Atomabkommen mit dem Iran wiederbeleben? Wäre das im Interesse der iranischen Bevölkerung oder der Machthaber? Ein Gastbeitrag von Behrooz Bayat.

Überraschend für viele statisch denkende, machtgläubige Politiker ist ein Game Changer auf die Bühne der Islamischen Republik Iran (IRI) getreten: die revolutionäre Erhebung „Frau, Leben, Freiheit“. Sie hat das Potenzial, das vermeintlich stabile Regime des Gottesstaates im Mülleimer der Geschichte zu entsorgen.

Die enthusiastische Solidarität der öffentlichen Meinung in den Demokratien mit dieser Erhebung ist überwältigend. Nach anfänglichem Zögern entdecken auch die westlichen Regierungen das Potenzial dieser von Frauen angeführten Freiheitsbewegung. Es scheint jedoch, dass es ihnen schwerfällt, sich von der am Iran fixierten Realpolitik zu lösen. Als Begründung wird angeführt: die Rettung des Wiener Atomabkommens (JCPOA) zur Verhinderung eines über Atomwaffen verfügenden Regimes im Iran.

Es ist wohl bekannt, dass wertegeleitete Politik und interessengeleitete Realpolitik durchaus in Konflikt geraten können. Meine Intention besteht darin, zu zeigen, dass im aktuellen Fall des Iran eine Konvergenz zwischen diesen Politik-Modi möglich und vernünftig sein kann. Es geht mir darum, zu vermitteln, dass die Panik der westlichen Regierungen angesichts eines drohenden atomaren Mullah-Regimes nicht die Gefahr im Verzug darstellt. Außerdem sind einige Säulen der bisherigen westlichen Realpolitik gegenüber der IRI weggebrochen. Der Westen müsste einen demokratischen Iran jenseits des Gottesstaates als das neue Subjekt der (Real-)Politik in Erwägung ziehen.

Ich habe als ein Experte, Physiker und ehemaliger externer Berater der internationalen Atomenergiebehörde IAEA, der sich über lange Zeit mit dem Atomprogramm des Iran befasst hat, in den letzten zehn Jahren in ca. 2.000 Artikeln, Vorträgen, TV-Interviews etc. die Verhandlungen des Regimes mit dem Westen inklusive Atomvereinbarung JCPOA befürwortet – trotz meiner entschiedenen Ablehnung dieses Atomprogramms. Aber die Situation hat sich jetzt fundamental gewandelt.

Einige grundsätzliche Bemerkungen vorab

Es ist ein Imperativ, dass das barbarische Mullah-Regime nie über Atomwaffen verfügen darf. Dieses anachronistische Regime steht auf drei vermeintlich identitätsstiftenden Säulen: Misogynie, USA- und Israel-Feindschaft. Aus der ersten Säule folgt eine Quasi-Apartheid gegenüber Frauen, aus den beiden letzteren das Atomprogramm des Iran und seine destruktive Regionalpolitik. Daher ist ein menschenwürdiger Umgang mit Frauen und Minderheiten sowie eine nachhaltige Vereinbarung mit dem Westen nicht zu erwarten.
Man kann mit gutem Gewissen behaupten, dass eine nachhaltige Lösung dieser Konflikte nur mit der Überwindung der Kleriker-Herrschaft durch die iranischen Bürger:innen – wohlgemerkt: nicht durch eine militärische Intervention – erreicht werden kann. Und der Westen sollte diese reale Chance am Horizont begreifen und zum Fundament einer neuen Politik erheben.

Der Wunsch vieler iranischen, westlichen und östlichen Politiker:innen: Wieder am Verhandlungstisch zu sitzen

Warum war die Atomvereinbarung JCPOA vormals gerechtfertigt?

Die mit dem Atomabkommen verbundene Hoffnung bestand darin, dass die JCPOA folgendes bewirken könnte:

  • die Vermeidung eines Krieges, die Verhinderung einer iranischen Atombombe, mittelfristig abgesichert durch die Überwachung der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA,
  • dem Gottesstaat den Feind entziehen, um seine inhärente Instabilität und Schwächen zu entlarven und den Boden für seine Überwindung zu bereiten,
  • die Entlastung der iranischen Bevölkerung von den ruinösen Kosten der Atompolitik,
  • die Öffnung des Iran gegenüber dem Westen, eine Revision seiner regionalen Rolle als Störenfried bzw. der unbedingten Feindschaft mit den USA und IsraelAber der geistliche Führer wollte lediglich die ökonomischen Vorteile der JCPOA einkassieren.

Die erhoffte Öffnung blieb aus, und die Miseren wurden sichtbar. Tatsächlich fanden landesweite Aufstände der iranischen Bürger:innen ca. zwei bzw. vier Jahre nach dem Abkommen, im Dezember 2017 und November 2019 statt, während die JCPOA noch wirkte.

Aus meiner Sicht war naheliegend, dass das Regime niemals auf die atomare Abschreckung verzichten würde. Gleichzeitig musste man jedoch bedenken, dass die Dynamik der iranischen Gesellschaft den tendenziell instabilen, despotischen Gottesstaat mittelfristig überwinden würde. Erst dann kann der Westen mit einem anderen Iran zur nachhaltigen Beilegung der Konflikte rechnen. Für die Überbrückung dieser Phase wäre die JCPOA nützlich gewesen.

Warum ist jetzt jede Vereinbarung wie die JCPOA mit dem Iran kontraproduktiv?
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