„Für nachhaltige statt autoritäre Stabilität“

Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Gründer und Direktor des Center for Middle East and Global Order (CMEG). Mit dem Iran Journal spricht er über seinen in Berlin gegründeten Think-Tank. Das Gespräch führte Dr. Nasrin Bassiri.

 Wie kamen Sie dazu, das Center for Middle East and Global Order (CMEG) zu gründen? 

Ali Fathollah-Nejad: Die Gründung des in Berlin beheimateten CMEG war eine Notwendigkeit. Wir wollen substantielle Analysen zu wichtigen Transformationen in der Weltpolitik liefern. Unser Schwerpunkt ist dabei der Nahe und Mittlere Osten und vor allem Iran, unter anderem deshalb, weil wir die Notwendigkeit sehen, uns an der sich entwickelnden Debatte über die Neuausrichtung unserer Außenpolitik im Spannungsfeld zwischen Interessen und Werten zu beteiligen. Außerdem ist es ein Projekt, das ich seit längerem anvisiert habe. In den vergangenen Jahren bin ich zunehmend an Gruppen ähnlich denkender Wissenschaftler in Europa herangetreten und wir haben ein europäisches Netzwerk auf die Beine gestellt.

Die Mitwirkenden leben und arbeiten innerhalb und außerhalb Europas.

In erster Linie ist es ein europäisches Netzwerk. Darüber hinaus haben wir einige Wissenschaftler*innen, die außerhalb Europas leben und bei uns mitarbeiten. Wir sind noch nicht nach Nordamerika expandiert, aber ich gehe davon aus, dass wir zunächst auch dort vermehrt Wissenschaftler*innen ansprechen und mit an Bord haben werden. Das CMEG ist im Übrigen ein Projekt, das durch den freiwilligen Einsatz Vieler zustandegekommen ist, darunter viele iranische und arabische Wissenschaftler*innen. Uns alle hat der Wunsch geeint, in der politikrelevanten Wissenschaft und der außenpolitischen Debatte neue Akzente zu setzen.

Worauf setzen Sie dabei Ihr Hauptaugenmerk, auf die Politik oder die Wissenschaft?

Wir machen politikrelevante wissenschaftliche Forschung, mit der wir auch an die Öffentlichkeit gehen werden: In den nächsten Tagen und Wochen werden wir unsere Arbeit in Form von Webinaren und Publikationsreihen vorstellen. Die Mission ist zweierlei: Wir werden die wichtige, epochale Transformation im Nahen und Mittleren Osten unter die Lupe nehmen, die geopolitischen Neuausrichtungen wie auch die historischen Volkserhebungen vom „arabischen Frühling“ bis hin zu den Protesten in Iran. Man kann beide als langfristige revolutionäre Prozesse bezeichnen. Wir werden uns zudem ansehen, inwieweit diese regionalen Transformationsprozesse die sich entwickelnde Weltordnung beeinflussen, die sich von einer von den USA allein dominierten wegbewegt. Last but not least möchten wir uns mit der Fragestellung an der Debatte beteiligen, wie man eine Außenpolitik betreibt, die in der Lage ist, unsere Interessen zu sichern, ohne unsere Werte zu verraten.

Ist Ihre Zielgruppe in erster Linie die Öffentlichkeit, oder sind es politische Akteure in Europa, die in der Außenpolitik verantwortlich agieren?

Kurz gesagt: Beiderlei. In Bezug auf Iran im Besonderen und Europas Nachbarregion im Ganzen sind die Analysen oftmals von falschen Prämissen ausgegangen. Die strukturellen Probleme der Region sind oft viel zu wenig berücksichtigt und so wurde auch das Aufkeimen revolutionärer Protestbewegungen aus dem Blickfeld genommen. Da setzen wir an. Das Zweite ist: Wir wollen unser Wissen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und einen Austausch befördern. Wir wollen aber natürlich auch Gehör finden bei außenpolitischen Entscheidungsträgern, uns an der außenpolitischen Debatte beteiligen und gemeinsam schauen, wie eine zukunftsorientierte Außenpolitik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten aussehen könnte. Wir sollten vor allem von der falschen Annahme wegkommen, dass autoritäre Staaten Stabilität herstellen können – wie wir bei Russland schmerzhaft realisieren mussten.

China gewinnt immer mehr Einfluss im Nahen und Mittleren Osten - Foto: www.ana.press
China gewinnt immer mehr Einfluss im Nahen und Mittleren Osten – Foto: www.ana.press

Sie haben erwähnt, dass die Arbeit von CMEG bislang auf freiwilliger Mitarbeit basiert. Wenn Sie künftig Seminare organisieren und Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen bilden wollen, werden Sie sicherlich Mittel benötigen. Was ist Ihre diesbezügliche Planung?

 Wir sind in Gesprächen, Projekte zu definieren. Wir werden dabei unterstützt von namhaften Universitäten, wie z.B. die Deakin University in Australien, und Professor*innen, von denen manche Distinguished Fellows bei uns sind. Außerdem haben wir mit dem wissenschaftlichen und politiknahen Global Policy Journal einen äußerst renommierten Medienpartner, der uns eine Plattform für unsere Publikationen zur Verfügung stellt. Es gibt also vielerlei Unterstützung.

Unser Flaggschiff-Projekt wird das Iran-Futures-Programm sein. Da wird es eine Reihe von Publikationen geben, angefangen von Analysen zur innen- und außenpolitischen Lage Irans, einem Monitoring des revolutionären Prozesses in dem Land sowie die Rolle von Russland und China in der Region. Unsere Expert*innen kommen aus sämtlichen Iran-relevanten Disziplinen, von Menschenrechten und Zivilgesellschaft über Innen- und Außenpolitik, Wirtschafts- und Atompolitik bis hin zu Umweltfragen.

Im Bereich der politischen Forschung sind in der Regel mehrheitlich Männer am Werk. Es sind im Iran aber zurzeit Frauen, die Widerstand leisten. Wird dem in Ihrer Arbeit Rechnung getragen? Gibt es in Ihrem Team Wissenschaftlerinnen?

Ja, circa die Hälfte ist weiblich; wir achten sehr auf eine Geschlechterparität. Allein in Bezug auf Iran haben wir u.a. Azadeh Pourzand und Shirin Hakim an Bord und als Distinguished Fellows die Professorinnen Azadeh Kian, Nayereh Tohidi und Firouzeh Nahavandi, die bekannte Namen in Sachen Iran und Geschlechterfragen sind.

Was sagen Ihre bisherigen Studien über die Gründe für die jüngsten Veränderungen im Nahen Osten: die Annäherungen zwischen Iran und Saudi-Arabien bzw. Israel und den arabischen Ländern? Wohin kann das führen?

Ich glaube, ein großes Manko der politischen Debatte war, dass man lange Zeit davon ausgegangen ist, autoritäre Staaten, also Diktaturen in der Nachbarregion Europas, könnten eine Stabilität herstellen, die erstens diesen Namen verdient und zweitens auch europäische Interessen befriedigen kann. Spätestens mit dem „arabischen Frühling“ haben wir aber gesehen, dass autoritäre Stabilität sehr fragil ist. Für viele Beobachter*innen war das eine große Überraschung. Im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine erleben wir nun eine neue außenpolitische Debatte in Europa, die genau diese grundlegenden Annahmen in Frage stellt. Auch die Situation in Iran war alles andere als stabil. Deshalb müssen wir überlegen, wie wir eine neue Außenpolitik vorantreiben können, die menschenrechtsorientiert ist und in der Lage, unsere Interessen mit Menschenrechten zu vereinbaren.

Es gibt autoritäre Pakts wie der iranisch-saudische Deal, die in erster Linie den Interessen der dortigen Regime entsprechen; auch der umstrittene regionale Normalisierungsprozess mit dem Assad-Regime in Syrien gehört dazu. Inwiefern diese geopolitischen Verschiebungen, neuen Arrangements und Mehrfach-Ausrichtungen dazu beitragen werden, auch die Interessen der Bevölkerungen vor Ort zu befriedigen, steht auf einem anderen Blatt. Und genau dies ist das Spannungsfeld in der Region: einerseits geopolitische Entwicklungen, die auf Staatsebene laufen, andererseits profunde Konflikte zwischen Staat und Gesellschaften, die die Staatsebene jederzeit destabilisieren können.

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