Khamenei erfindet sich neu

Arme und Bedürftige nannte man in der Islamischen Republik einst die „Entrechteten“, und sie bildeten die Basis des Gottesstaates. Doch inzwischen haben sie sich in der Terminologie der Herrschenden in „unzufriedene Massen“ verwandelt, und zum „Entrechteten“ erklärt sich das Staatsoberhaupt Ali Khamenei selbst.

Von Ali Sadrzadeh

„Von der Rasse der Ästhetik“, „ زیبایی نژاد „. Eine merkwürdige, sinnlose Wortkombination, möchte man sagen. Noch merkwürdiger wird es, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um einen ganz normalen persischen Nachnamen handelt, über den sich niemand wundert. Ein rein persischer Name, ohne eine Spur von Islam oder der arabischen Sprache.

Der Mann, der vor 65 Jahren mit diesem Namen das Licht der Welt erblickte, ist heute einer der mächtigsten Generäle der Islamischen Republik und Kommandant jener Truppe, die innere Unruhen bekämpft. Er stammt aus Schiraz, oder, wie der Volksmund sagt, aus der Stadt der Blumen und der Nachtigallen. Mit Schiraz assoziiert man im Iran unweigerlich Poesie und Lyrik, dort liegen Saadi und Hafis, die unbestreitbaren Meister der persischen Dichtkunst, begraben.

Herr „Von der Rasse der Ästhetik“ änderte nach der islamischen Revolution aber seinen Namen und nennt sich heute Nedjat (Rettung), ein arabisches Wort mit islamischer Konnotation. Bar jeglicher Ästhetik oder Poesie hat sich General Hossein Nedjat vorgenommen, den islamischen Gottesstaat in dieser schwierigen Zeit zu retten und den unzufriedenen Massen die Härte Gottes zu zeigen. Dass er das kann, hat er in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, und er wird es weiter tun. Das verkündete er in den vergangenen Wochen wiederholt und öffentlich und lieferte auch eine religiöse und theoretische Begründung dafür: Er hält sich tatsächlich für den „Retter“.

Seit zehn Monaten ist General Nedjat der oberste Soldat im Stützpunkt Sar-allah (Blut Gottes). Hier ist die wichtigste Einheit der Revolutionsgarden stationiert. Eine Sondereinheit, die in Notfällen die Sicherheit der Hauptstadt Teheran und der umliegenden Städte mit mehr als 30 Millionen Menschen übernehmen soll. Im Falle einer Massenunruhe oder eines Ausnahmezustandes mutiert dieser Stützpunkt zum eigentlichen Staat: Ihm unterstehen dann alle Ministerien und sämtliche staatlichen Einrichtungen, so sein Statut.

Gnaden- und grenzenlos

General Nedjat ist kein Mann der leeren Propaganda. Er erklärt oft und mit einer trockenen, ja beängstigenden Rationalität, warum seine Truppe hart vorgehen muss. Wie im Herbst 2019, als nach der plötzlichen Verdreifachung des Benzinpreises in 120 iranischen Städten Massenaufstände ausbrachen. Zwei Tage lang durften sich die meist jungen Protestierenden auf den Straßen austoben, dann trat die Sondereinheit auf den Plan und zeigte, wie weit sie gehen kann. Innerhalb von drei Tagen tötete sie nach Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters mindestens 1.500 Menschen. Tausende wurden verhaftet und Unzählige verwundet, all das unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit. Erst zwei Wochen später, als das Internet langsam wieder anlief, erahnte die Außenwelt, was sich in jenen Tagen auf den Straßen des Iran ereignet hatte. Es tauchten grausige Bilder auf, die einen beispiellos blutigen Abschnitt der jüngsten Geschichte des Landes dokumentieren.

Diese Sondereinheit hat in all den kritischen Situationen der letzten Jahre bewiesen, dass sie bis zum Äußersten gehen und niemand ihr eine Grenze setzen kann.

General Hossein Nedjat (links)
General Hossein Nedjat (links)

Der neue Feind

Doch der General belässt es nicht nur bei der Anschauung. Er erklärt sich. Nachdem er in jenem dunklen Herbst sein Werk verrichtet hatte, legte er öffentlich das Warum dar: Diese Unruhen hätten gezeigt, dass der Westen die Form seines Umsturzplanes in der Islamischen Republik geändert habe. Jetzt bediene man sich der Armen, der Analphabeten, der bildungsfernen Slumbewohner, die zuvor in der virtuellen Welt „kontaminiert“ worden seien.

Genau gelesen sind diese Sätze eine ungeheuerliche Bombe. Die Herrschenden des Gottesstaates verabschieden sich von den Armen und Unterprivilegierten, denen sie ihre Macht verdanken. Mehr noch: Diese werden zu Feinden der Islamischen Republik und zum Kanonenfutter des gierigen Westens erklärt. Bittere Ironie der Geschichte.

Die politischen Szenen der ersten Tage der Revolution werden vor diesem Hintergrund wieder lebendig. Während in jener turbulenten Zeit in den Zeitungen diverser linker Gruppen von den Werktätigen, der Arbeiterklasse und den Ausgebeuteten dieser Welt die Rede war, präsentierten Ayatollah Ruhollah Khomeini und seine Anhänger nur einen Koranvers (28-5), mit dem sich alles andere erübrigte: «و نرید وان نمن علی الذین استضعفوا فی الارض و نجعلهم ائمة و نجعلهم وارثین ] …» Von „schwach Gehaltenen“ und Entrechteten ist darin die Rede, denen Gott die Ehre zu geben beabsichtige, sie zu den Anführern auf der Erde zu machen. Mohammad versus Marx. Entwaffnend war das Wort von den Entrechteten. Es war viel umfassender und aussagefähiger als „Werktätige“, „Arbeiterklasse“ oder anderes Vokabular der Linken und Marxisten. Es funktionierte. Die Liste dessen, was die Islamische Republik in den vergangenen vierzig Jahren im Namen der „Entrechteten“ in die Welt gesetzt hat, ist lang. Vierzig Jahre später kommt deshalb die Art, wie General Nedjat seine Schlacht rechtfertigt, einer sozialen, religiösen und politischen Umwälzung der Islamischen Republik gleich.

Khamenei erklärt sich zum „Entrechteten“

Der General hat eine 40-jährige Karriere in den Revolutionsgarden hinter sich, zehn Jahre davon kommandierte er jene 12.000 Mann starke Truppe, die sich سپاه ولی امر (Armee der Befehlshaber) nennt und unweit von Ali Khameneis Residenz stationiert ist. Das ist die persönliche Leibgarde des Revolutionsführers und seiner Familie. Nedjat stand Khamenei stets sehr nahe.

Was er über die „Entrechteten“ sagt, ist die militärische, kalte Übersetzung dessen, was Khamenei drei Tage vorher ausführlicher referiert hatte. Bei einer seiner Audienzen hatte er den erwähnten Koranvers über die „Entrechteten“ neu interpretiert: Bei diesen Entrechteten handele es sich nicht um die Armen und Bedürftigen. Nein, die wahren Entrechteten seien jene, die den Gottesstaat schützen. Sie seien diejenigen, die Gott zu Führern und Erben der Erde auserkoren habe.

Mit diesen Worten erfindet sich Khamenei neu. Er verabschiedet sich öffentlich von den Massen. Entrechtet seien nicht die Armen, sondern die Führer und Generäle des Gottesstaates. Die Zeit der Entrechteten ist endgültig vorbei. Das ist die Verkündung einer neuen Revolution.
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