Die Jugend und ein „Kinder mordendes Regime“

Javad versteht die Forderungen der rebellischen Jugend: „Wir haben uns im Teenageralter nicht getraut, aufzubegehren. Aber sie tun es. Wir haben genauso gelitten unter diesem Regime wie die Jugend von heute. Alles, was Freude macht, war und ist verboten, die Mullahs schreiben ihnen vor, wie sie sich zu verhalten haben, was sie trinken und was sie essen dürfen. Sonst gibt es Prügel und Peitsche. Das ist doch kein Leben.“

Warum die Bazaris nicht bei den Protesten mitmachen, erklärt Javad so: Manche seien unsicher, ob der Aufstand „zum Erfolg“, also der Abschaffung der Islamischen Republik führen würde, manche seien konservativ und hätten Angst vor Veränderungen, andere hätten Angst vor einer ungewissen Zukunft und einige, wie Javad selbst, solidarisierten sich heimlich mit den Protestierenden.

Er hat sein Geschäft bisher an zwei Tagen nicht geöffnet, aus Protest. Außerdem hat er in den letzten Wochen zwei Jugendlichen aus seiner Verwandtschaft vor der Tortur in den Gefängnissen bewahrt.

Jeder Bazari habe mindestens einen einflussreichen Hizbollahi als Freund, sagt Javad. Hizbollahis sind die Angehörigen der Schlägertrupps des islamischen Regimes. „Sie machen alles, was wir von ihnen verlangen, sie besorgen uns auch ohne Probleme Bier oder Whisky. Nur das Schutzgeld muss stimmen.“

Man könne die festgenommenen Demonstranten retten, solange sie im „Maghar der Basidsch oder der Hizbollah“, also auf der Basisstation der zivilgekleideten Schlägertrupps, oder auf der Polizeistation sind: „Da können wir sie dann mit Hilfe unserer Hizbollahis rausholen. Das kostet allerdings viel Geld und manchmal muss man auch eine schriftliche Bürgschaft abgeben, dass man sie wieder zurückbringt, was ja lächerlich ist. Von dort werden die Inhaftierten der Justiz übergeben. Ich konnte die beiden Mädchen retten, bevor sie der Justiz übergeben wurden. Sonst wären sie im Gefängnis gelandet und dann wäre es sehr schwierig, sie rauszuholen.“

An der Allameh-Tabatabai-Universität in Teheran wurde an den von den "Sicherheitskräften" getöteten Kindern im Iran gedacht
An der Allameh-Tabatabai-Universität in Teheran wurde an den von den „Sicherheitskräften“ getöteten Kindern im Iran gedacht

Social Media als Ort des Protestes

Obwohl sie wissen, dass sie bei jeder Aktion getötet werden können, gehen die jüngeren Iraner:innen auf die Straße oder demonstrieren lautstark mit Anti-Regime-Parolen an den Schulen und Universitäten. Die Älteren haben sich die Sozialen Netzwerke als Ort des Widerstandes oder der Solidarität mit den Protestierenden ausgesucht. Kians Tod brachte sogar vorsichtige Künstler:innen zum Reden. Der zweifache Oscarpreisträger Asghar Farhadi veröffentlichte ein Foto von Kian mit der Botschaft, dass das Blut solcher jungen Menschen dem Regime zum Verhängnis werden würde.

Die renommierte Filmemacherin Rakhshan Banietemad, bekannt als „Grand Dame des iranischen Kinos“ postete ein Video, in dem sie ohne Kopftuch ihrer Wut freien Lauf lässt. Sie verdammt die Verantwortlichen des Staates, dass sie für den Erhalt der Macht den Tod junger Menschen billigend in Kauf nehmen.

Hengameh Ghaziani, eine bekannte Filmschauspielerin, bezeichnete das Regime als „Kindermörder“. Bisher hat die Führung der Islamischen Republik den Staat Israel als „Kindermörder“ bezeichnet.

Ghaziani schrieb: „Ihr habt in einer kurzen Zeit 52 Kinder getötet. Reicht das nicht?“

Mahtab Keramati, Schauspielerin und Unicef-Botschafterin, schrieb auf Instagram, sie wolle im Iran nicht mehr als Unicef-Botschafterin fungieren.

Der iranische Kinderschutzbund kritisierte die iranische Regierung und erinnerte sie daran, dass sie die Pflicht habe, das Recht auf Leben und Überleben von Kindern zu schützen. In seiner Erklärung heißt es: „Die Zahl der Kinder, die bei den jüngsten Protesten getötet werden, nimmt jeden Tag zu, und wir werden weiterhin Zeuge des Schweigens internationaler Foren und des Mangels an Rechenschaftspflicht und Transparenz der verantwortlichen Institutionen.“ Der Kinderschutzbund erwähnt auch die Zunahme anderer Gewalttaten wie Verhaftungen, Prügeleien und Drohungen gegen Minderjährige. Auf vielen Videos sind „Sicherheitskräfte“ zu sehen, die brutal Jugendliche zusammenschlagen.

Unicef hat am 18. November erstmals zu den Gewalttaten gegen Kinder im Iran Stellung genommen. Die Tötung von Kindern sei „erschreckend und muss aufhören“, ließ UNICEF wissen.

Zuvor war das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen stark in Kritik geraten.

Inger Ashing, Geschäftsführerin der Organisation Save the Children International, hatte vor einigen Tagen die internationale Gemeinschaft aufgefordert, die Tötung von Kindern im Iran nicht zu tolerieren. Sie betonte, ihre Organisation unterstütze die Forderung vieler Iraner:innen nach einer internationalen Untersuchung der Ereignisse im Iran in den vergangenen Wochen.

Ob Javad glaubt, dass das iranische Regime jemals solche Untersuchungen zulässt?

Sei nicht naiv“, antwortet er, „die Mullahs wissen genau, wie sie so etwas verhindern können. Seit 42 Jahren führen sie die ganze Welt an der Nase herum. Wetten, dass sie bald ein schrecklicheres Szenario realisieren, das viele Menschenleben kostet, um die Proteste in den Hintergrund zu schieben und sich dann als Opfer des internationalen Terrorismus zu präsentieren?“

Das wollen wir nicht hoffen.♦

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