Eskalation in Nahost – mögliche Gewinner und Verlierer

Regionalisierung

Doch die Aussichten solcher macht- und interessenspolitischen Spiele hängen massgeblich davon ab, ob die Konfliktparteien den Konflikt wirklich noch beherrschen. Und hier ist ein grosses Fragezeichen anzubringen. Die in Syrien und Libanon stationierten iranischen oder proiranischen Milizen, die direkt oder indirekt dem Kommando der iranischen Revolutionsgarden unterstehen, könnten versuchen, das Momentum zu nutzen und in den Konflikt mit ihren Raketen von Syrien oder Libanon aus einzugreifen. Der schwelende unerklärte Krieg zwischen Israel und Iran, der sich in den gegenseitigen Attacken auf Tanker vor der Küste Syriens und Libanons beziehungsweise im Persischen Golf zeigt, würde dann plötzlich zu einem Schlagabtausch eskalieren, der nur sehr schwer wieder zu begrenzen wäre. Israelische Militärs könnten auf die Idee kommen, in einem solchen Fall auch gleich das Problem der iranischen Atomanlagen zu lösen. 

Allerdings stört der Konflikt die Arbeit eines neuen Nahost-Quartetts, bestehend aus Ägypten, Israel, Saudi-Arabien und der Türkei. Dieses Quartett soll eine Sicherheitsallianz als Rückversicherung begründen für den Fall, dass die USA aus Nahost «aussteigen». Die Rolle von Iran in einer solchen regionalpolitischen Sicherheitsarchitektur ist allerdings noch unbestimmt. Diese Allianz soll des Weiteren der Absicherung einer neuen regionalen Wirtschaftsintegration dienen, durch die der Nahe Osten zu einem globalen Player in der postfossilen Zeit werden soll.

Saudi-Arabien jedenfalls hat schon gezeigt, dass es das Engagement in der Allianz ernst meint und sie vor allem als defensives Bündnis gegen Iran und je nach Umständen auch gegen die Türkei versteht. Immerhin lässt der türkische Präsident Erdogan keinen Zweifel daran, dass er die Türkei im Gewand einer neoosmanischen Hegemonialpolitik gerne als neuen Protektor des muslimischen Heiligtums in Jerusalem sähe. Die saudische Presse wird nicht müde zu erklären, dass Hamas und der Islamische Jihad «safawidische», also von Iran unterstützte Terrororganisationen seien, und dass es neue Ansätze bräuchte, um den Konflikt in Jerusalem zu lösen. Saudi-Arabien und die Emirate, mit denen Israel jüngst diplomatische Beziehungen aufgenommen hat, positionieren sich als «ehrliche Makler» solch einer neuen Nahostordnung.

Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei und der Spitzenpolitiker der Hamas Ismail Haniyeh
Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei und der Spitzenpolitiker der Hamas Ismail Haniyeh

Interveniert Iran?

Offen ist, wie Iran auf diese geopolitische Neuordnung reagiert. Zweifellos werden Hardliner im Machtbereich des Revolutionssystems in Iran darauf drängen, jetzt nicht nur ihren Verbündeten Hamas zu unterstützen, sondern sich zugleich an Israel für dessen Geheimdienstaktionen im Land und die Ermordung des Atomwissenschaftlers Mohsen Fakhrizade am 27. November 2020 zu rächen. Gerade jetzt erklärten iranische Stellen, Beweise gefunden zu haben, dass Israel auch bei der Ermordung des Kommandeurs der Quds-Einheiten, Qassem Soleimani, am 3. Januar 2020 die Hand im Spiel gehabt hätte. Für das Establishment der islamischen Revolution böte sich zudem die Gelegenheit, ihren langandauernden Wettstreit mit dem System der Regierung für sich zu entscheiden. Die Machthaber des iranischen Revolutionssystems mit ihren Satrapen in Libanon (Hizbullah), Syrien (Regime Asad), Irak (Haschd) und Jemen (Ansar Allah, d. h. Huthi) könnten ihre Schlagkraft masslos überschätzen und ein Abenteuer wagen, das dann den Konflikt zu einem veritablen Krieg werden liesse.

Die Gesellschaft als Verliererin

Die regionalpolitische Gemengelage ist also anders als noch bei den letzten Konfrontationen zwischen Hamas und Israel 2014 oder gar 2006. Die Blockbildung hat sich so stabilisiert und die Freund-Feind-Schemata haben sich so verschärft, dass ein Ereignis wie in Jerusalem einen Sarajewo-Effekt haben könnte. 

Verlierer des Konflikts sind nicht nur die 13 Familien, die aus Sheikh Jarrah vertrieben werden sollen, sondern die ganze israelische wie palästinensische Gesellschaft. Die Unfähigkeit der politischen Institutionen hüben wie drüben, kommunale Konflikte zu begrenzen und für sie lokale und nachhaltige Lösungen zu erarbeiten, sowie ihre stete Bereitschaft, für den Machterhalt mit dem erstarkenden religiösen Nationalismus zu paktieren, lassen befürchten, dass die Auseinandersetzungen um den Stadtteil von Jerusalem nur der Auftakt zu einer neuen Konfliktspirale sein werden.♦

© Journal21

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