Eskalation in Nahost – mögliche Gewinner und Verlierer

Die neue Gewalt in Israel und den Palästinensergebieten kann bestimmten politischen Lagern in der Region nützen, aber auch neue Allianzen gefährden. Vorstellbar, dass auch die Islamische Republik Iran davon zu profitieren versucht. 

 
Seit fast 15 Jahren währt ein kommunaler Konflikt in Jerusalem. Im Stadtteil Sheikh Jarrah, knapp drei Kilometer nördlich der Altstadt an der ehemaligen Grünen Grenze gelegen und mit etwa 15’000 Einwohnern eher beschaulich, in einem Ort voller Stätten, die an die Kolonialgeschichte erinnern und die als Teil eines kulturellen Gedächtnisses wirken, reklamieren rechtsradikale jüdische Gruppen, die den religiösen Zionisten aus der Kahane-Bewegung nahestehen, die Restituierung von Liegenschaften, die vermeintlich im Besitz jüdischer Familien gewesen waren. Derzeit geht es um die Liegenschaften von 13 Familien, denen eine Zwangsräumung droht. Für die religiösen Zionisten um den Knesset-Abgeordneten Itamar Ben-Gvir von der Partei Otsma Yehudit («Jüdische Macht») ist dies erklärtermassen nur das Einfallstor für eine komplette Inbesitznahme des Stadtteils.

Eskalation des Grundkonflikts

Die letzten Wahlen zur Knesset haben den religiösen Nationalisten Auftrieb gegeben. Jeder dritte der jüngeren Wähler, die bislang eine der ultraorthodoxen Parteien gewählt haben, stimmte  für die religiösen Zionisten, die jetzt mit sechs Abgeordneten in der Knesset vertreten sind. Der israelische Premierminister Netanjahu umwarb nach den Wahlen die politische Rechte, um an der Macht zu bleiben, und dies wertete den Geltungsanspruch der Ultranationalisten weiter auf. Sie fühlten sich ermuntert, ihren jahrelang gepflegten Anspruch auf Sheikh Jarrah auf die Strasse zu tragen. Am Damaskustor kam es in den vergangenen Wochen immer wieder zu Manifestationen ihres Besitzanspruchs, was erwartungsgemäss die Opposition arabischer Bewohner der Stadt hervorrief.

Die Partei Otsma Yehudit ist bestrebt, den Stadtteil Sheikh Jarrah in Besitz zu nehmen!
Die Partei Otsma Yehudit ist bestrebt, den Stadtteil Sheikh Jarrah in Besitz zu nehmen!

Nach den Wahlen zur Knesset am 23. März 2021 befassten sich Gerichte mit dem Besitzanspruch und vertagten ihre Entscheidung für einige Fälle auf das Ende des Monats Ramadan und für andere auf den Monat August. Es war also absehbar, dass zum Ende des Fastenmonats Ramadan, der heute mit dem Grossen Fest des Fastenbrechens endet, der Konflikt eskalieren würde.

Doch weder die Polizei von Jerusalem noch andere Sicherheitsbehörden verfügten über geeignete Mittel, den kommunalen Konflikt zu deeskalieren. Im Gegenteil: Sie sahen der ultranationalistischen Überhöhung und Umdeutung des kommunalen Konflikts zu, die so durch staatliche Macht und Gewalten geschützt erschien.

Der Konflikt um Land

Der Landkonflikt in Jerusalem bildet ein Grundmuster der Auseinandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern ab. Für die Palästinenser ist es ein Fluch, dass die britischen Behörden nach dem Ersten Weltkrieg die osmanische Landgesetzgebung aus dem 19. Jahrhundert fortschrieben, die die faktischen Bewohner des Landes massiv benachteiligte und die überhaupt erst den Grunderwerb durch jüdische Kolonisten ermöglichte. Zwar änderte sich nach 1948 die Bodengesetzgebung unter jordanischer Herrschaft, doch berufen sich die religiösen Zionisten nun wieder auf die Rechtsverhältnisse, die vor 1948 herrschten. Die mit den Ansprüchen auf «Rückkehr» verbundene Absurdität wurde von der liberalen Presse schon bald übernommen, denn genau diese Rückkehr und Restituierung von Besitzverhältnissen reklamieren ja auch jene arabischen Familien, die nach 1948 ihr Land aufgeben mussten.
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