Eskalation in Nahost – mögliche Gewinner und Verlierer

Religiöser Nationalismus

Der Fastenmonat Ramadan begünstigte die Mobilisierung arabischer Proteste. Tausende Muslime versammelten sich zu den abendlichen Fastenandachten auf dem Tempelberg und protestierten zugleich gegen die Besitzansprüche der religiösen Zionisten. Schon bald verlagerte sich der Protest: Sheikh Jarrah und die 13 betroffenen Familien wurden zu Symbolen eines gesamtpalästinensischen Protests. «Wir sind Sheikh Jarrah» wurde zum Leitmotiv des Widerstands, dem sich immer grössere Teile der arabischen Bevölkerung anschlossen. Auch hier überwog die religiöse Konnotation des arabisch-palästinensischen Nationalismus, und so standen sich gleichsam zwei religiöse Nationalismen unversöhnlich gegenüber.

Die Proteste waren hochsymbolisch aufgeladen: Fahnenschwenkende, singende und sich selbst feiernde Gruppen standen sich unversöhnlich gegenüber. Eine Avantgarde unter den arabischen Demonstranten trat als «Murabitun» auf, als wären sie Wiedergänger muslimischer «Grenzkrieger» aus dem Frühmittelalter. Die illegale «islamische Bewegung in Israel» – nördlicher Zweig – mobilisierte ihre Anhängerschaft, die sich unter die mehrere Tausend zählenden abendlichen Demonstranten und Betenden auf und am Tempelberg mischten. Wütenden Protest riefen die Aktionen der israelischen Polizei hervor, unter dem Einsatz von Blendgranaten in der Moschee Leute festzunehmen.

Keine Seite hat auch nur den Hauch einer Idee, wie dieser mikropolitische Konflikt gelöst werden könnte. Immer mehr Menschen wurden in die Demonstrationen hineingezogen. Religiöse Nationalisten auf beiden Seiten beharrten auf ihrer fatalen Rechtfertigungshaltung, Ansprüche durch Verweis auf «historische Rechte» zu fundamentalisieren. Hier rächt sich die jahrzehntelange Likud-Politik, die Nichtlösung des Konflikts in eine Lösung umzudeuten, und hier rächt sich die Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, die fast nur noch mit sich selbst und mit ihrem eigenen Machterhalt beschäftigt war. Dies alles öffnete den religiösen Nationalisten neue Spielräume, und je mehr ihr Diskurs in der eigenen Öffentlichkeit Anerkennung fand, desto stärker wurde er auf der anderen Seite repliziert.

Militarisierung

Der Konflikt schaukelte sich sehr schnell auf. Die israelische Regierung goss noch Öl ins Feuer mit der Behauptung, die palästinensischen Behörden hätten einen Immobilienstreit zwischen privaten Parteien als nationalistischen Anlass präsentiert, um zu Gewalt in Jerusalem anzustiften. Als am 10. Mai die nächtlichen Konflikte in Jerusalem einen ersten Höhepunkt erreichten und Hunderte palästinensischer Demonstranten durch Polizeimassnahmen verletzt wurden, feuerten die Qassam-Brigaden, die den militärischen Flügel von Hamas in Gaza bilden, sieben Raketen auf israelisches Gebiet ab, drei von ihnen gingen in der Nähe von Jerusalem zu Boden. Die israelische Luftwaffe reagierte prompt und griff Häuser in Beit Hanun an, einer nur zwei Kilometer von der Grenze zu Israel entfernt gelegenen Stadt in Nord-Gaza, in denen sie Hamas-Aktivisten vermuteten. Weitere Angriffe folgten, und in der Nacht auf den 12. Mai griffen die Qassam-Brigaden mit Unterstützung des «Islamischen Jihad» und anderer lokaler Verbände mit zahllosen Raketen Be’er Scheva und Tel Aviv an. Auf beiden Seiten gab es Opfer: 48 Menschen wurden bislang in Gaza getötet, fünf Menschen in Israel.

Routinisierung

Damit kommt eine gewisse Routine in den Konflikt. Wahrscheinlich werden nun beide Seiten ihre Beziehungen spielen lassen, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Denn Hamas hat ein erstes Etappenziel erreicht: Die Herren von Gaza hatten sich schon als Sieger in den im Mai vorgesehenen palästinensischen Wahlen gesehen, als Präsident Abbas diese vordergründig absagte. Dagegen protestierte Hamas vergeblich; der militante Konflikt mit Israel bietet ihr nun den Spielraum, sich als einzig legitime Repräsentantin des palästinensischen Volks in Szene zu setzen, während Fatah und die PLO in die Rolle von Zaungästen gedrängt werden.

Sollten sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand einigen können, dann wird Hamas versuchen, die Wahlen zu erzwingen. Sie könnte mit gewisser Berechtigung davon ausgehen, dass sie diese Wahlen gewinnen würden. Dies aber wäre weder im Interesse von Fatah noch von Israel. 

Ähnlich auf israelischer Seite: Hier werden sich die religiösen Nationalisten und Parteien wie Likud und die «Neue Rechte» in ihren Ansprüchen gegenüber den Palästinensern und ihrer Politik gegenüber der arabischen Bevölkerung im eigenen Land bestätigt sehen. Netanjahu könnte sich veranlasst sehen, eine fünfte Wahl anzustreben, um so die Stimmung im Land in politische Zustimmung umzumünzen.
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