Der Mut zum Recht

Richtig, alle diese Menschen, und es gibt so viele mehr, die man nennen könnte, brauchen unsere Aufmerksamkeit. Aus drei Gründen finde ich die heutige Ehrung von Nasrin Sotoudeh allerdings absolut richtig: Erstens ehren wir heute eine brillante Juristin, die in ihrem Land keine Richterin werden darf, weil dieses Amt für Frauen nicht zugänglich ist. Und die dennoch den Mut hat zum Recht. Wäre sie frei, sie würde die Fälle all der oben genannten vor Gericht übernehmen, um das Recht zu verteidigen. Zweitens ist der Nukleus ihrer Arbeit stets der Kampf um Kinderrechte.

An diesem Abend vor zwölf Jahren sagte sie mir: „Ein Land, in dem Kinder nicht zu ihren Rechten kommen, ist ein Land, in dem niemand zu seinen Rechten kommt“. Damit aber hat sie eine Pionierarbeit geleistet in einem Land, in dem Kinderrechte wahrlich nicht gewährleistet sind. Drittens ist sie, mit ihrem unfehlbaren Sinn für das Recht, natürlich auch Frauenrechtlerin. Am 8. März dieses Jahres schrieb sie aus dem Gefängnis: „Der Iran ist ein Land, in dem die Rechte der Frauen systematisch verletzt werden. Umso wichtiger ist es, den Internationalen Frauentag zu ehren und seiner zu gedenken. An diesem Tag denke ich an die Jahre, die vergangen sind. Die Jahre unseres Schweigens und unserer Gefangenschaft; die Jahre des Protests, der Knechtschaft und der Mauern, hinter denen wir gefangen sind.“

Am Ende aber ist Nasrin Sotoudeh nicht nur die Anwältin der Kinder- und Frauenrechte, sondern aller, denen Rechte systematisch verweigert werden, aufgrund von Herkunft, Glauben, sexuelle Orientierung oder schlicht unangepasster Gedanken. Die immer wieder einkehrende Diskriminierung und Unterdrückung, Verfolgung und Verhaftung iranischer Frauen und zahlreicher anderer marginalisierter Gruppen sind ein Zeichen der Schwäche.

Die brutale Härte, mit der jeglicher Protest weggedrückt wird, soll vor der freien Meinungsäußerung abschrecken. Diese Gewalt bringt so viel Leid, doch sie funktioniert nur auf Zeit. Der Protest bricht sich immer wieder Bahn. Ob zu Hunderttausenden auf den Straßen im ganzen Land, in Film undKunst, Musik, Literatur, im Fussballstadion oder durch eine Frau, unverschleiert mit weißem Kopftuch als Friedensflagge am Stock auf den Straßen Teherans. Oder eben in der Arbeit einer Rechtsanwältin. Das System lebt in ständiger Angst vor seiner eigenen Bevölkerung. Und das wird auch so bleiben, solange die Iranerinnen ihre überfälligen Rechte nicht bekommen.

In der iranischen Gesetzgebung werden Frauen Männern gegenüber grundsätzlich und massiv benachteiligt: ob beim Sorgerecht, in der Erbschaft oder im Wert ihrer Zeugenaussage.

Die Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff überreichen den Menschenrechtspreis für Nasrin Sotoudeh an die iranische Frauenrechtlerin Mansoureh Shojaee
Die Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff überreichen den Menschenrechtspreis für Nasrin Sotoudeh an die iranische Frauenrechtlerin Mansoureh Shojaee – Foto: drb.de

Der sekundäre Status von Frauen spiegelt sich auch in ihrem eigenen Zuhause wider, da Ehemänner per Gesetz die primäre Kontrolle über die häuslichen Angelegenheiten behalten, natürlich auch über das Geld im Haus. Im ganzen Land haben viele Frauen mit zwangsnormalisierten Mustern von körperlicher wie seelischer Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe zu kämpfen – ein Verbrechen, das im Iran nicht geahndet wird. Dagegen gehen Frauen wie Nasrin Sotoudeh an. Sie hat immer und immer wieder zeigen müssen, dass sie bereit ist für ihre tiefen Überzeugungen einen hohen Preis zu zahlen. Trotz aller Risiken hat sie ihr Leben einem Ziel gewidmet: dem Kampf für Menschenrechte, für einen gerechten Iran für Frauen, Kinder, Minderheiten sowie für die Zivilgesellschaft. Und gegen die Straflosigkeit und für die juristische Aufarbeitung der systematischen Menschenrechtsverletzungen, die in iranischen Gefängnissen seit Jahrzehnten begangen werden. Nicht zuletzt drückt sich in ihrer Arbeit aber auch die Hoffnung aus, dass es eines Tages einen Iran nach ihrem Vorbild geben kann, der Kinder schützt, und in dem Frauen und Minderheiten gleichberechtigt sind. In dem Tyrannei und Willkür der Freiheit und dem Recht weichen müssen.

Meine Damen und Herren, der Hungerstreik ist ein äußerstes Mittel der Mittellosen gegen das Unrecht. Seit nun 25 Tagen ist Manouchehr Bakhtiari in Hungerstreik. Er ist der Vater von Pouya Bakhtiari, der im letzten Jahr bei den November-Protesten erschossen wurde. Pouya wurde 27 Jahre alt. Er ist mittlerweile das Gesicht der mehr als 1.500 auf der Straße Getöteten des letzten Jahres. Es ist zu befürchten, dass noch viele andere in den Gefängnissen gefolgt sind oder noch folgen werden. Manouchehr Bakhtiari wurde auf dem Weg zu einem Inlandsflug verschleppt, schlicht weil er Gerechtigkeit für seinen Sohn eingefordert hat. In den Monaten vorher waren seine Frau und er unbeschreiblichen Repressionen ausgesetzt. Bei einer Razzia in seinem Haus wurde sogar seine 80-jährige Mutter verprügelt. Das ist nicht nur ungeheuerlich, sondern auch nach iranischem Recht skandalös. Wenn die Forderung nach Recht schon verfolgt wird, dann ist das Unrecht überall.

Ich weiss nicht, ob Herrn Bakhtiaris Hungerstreik mit dem von Frau Sotoudeh zusammenhängt. Aber sie befindet sich in Lebensgefahr. Sie ist derzeit im Hungerstreik, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen für die katastrophalen Zustände nicht nur, aber vor allem der politischen Gefangenen im Iran, gerade in Zeiten der Pandemie. COVID-19 grassiert in iranischen Gefängnissen, statt Abhilfe bekommen die Insassen schlicht die Ignoranz der Zuständigen.

Nasrin Sotoudehs Hungerstreik muss Angst und Schrecken bei den Herrschenden hinterlassen haben. Denn vor wenigen Tagen ist ihre Tochter Mehraveh zu Hause abgeholt und für mehrere Stunden festgehalten worden. Es droht ihr ein Strafverfahren. Ihr Vater Reza Khandan durfte sie begleiten. Ich kann nur ahnen, wie es ihm dabei ergangen ist. Und ich kann nur ahnen wie es dem jüngeren Bruder Nima ergangen sein muss zu glauben, dass nach der Mutter nun auch die Schwester nicht mehr nach Hause kommen könnte.

Ihre Kinder sind Nasrin Sotoudehs kostbarster Schatz. Es ist schmerzvoll, ihre Briefe an ihre Kinder, die ihr Ehemann regelmäßig veröffentlicht, zu lesen. Es ist schlicht herzzerreißend, das heimlich aufgenommene Video vom Besuch der Kinder im Gefängnis nach der Urteilsverkündung anzuschauen. Da sieht man zwei zurecht betrübte Kinder auf der einen Seite des Plexiglas.

Auf der anderen wiederum sieht man diese unmenschlich starke, und doch so zerbrechlich anmutende Frau, die nach ClownsManieren ihrem Sohn die Nase klaut, und in ihrer Faust versteckt, um ihn zum Lachen zu bringen. Das Unrecht, das bei einer so liebenden Mutter nach ihren Kindern trachtet, will nicht nur ihren Willen brechen, es hat vor allem Angst vor ihr. Und vor ihrem Mut zum Recht.

Unsere heutige Preisträgerin befindet sich in diesem Augenblick in Lebensgefahr. Die Außenministerin Schwedens fordert ihre sofortige Freilassung. Ich wünschte mir, dass sich ihr mehr europäische Außenminister anschließen. Der Deutsche Richterbund ehrt heute mit Nasrin Sotoudeh eine Frau, deren Mut zum Symbol geworden ist für den Kampf für das Recht. Vor diesem unglaublichen Mut zum Recht verneige ich mich. Möge sie bald frei, möge sie bald nach Hause kommen. Ihre Kinder Mehraveh und Nima brauchen sie, ihr Mann Reza braucht sie. Millionen von Iranern und vor allem Iranerinnen brauchen sie.„

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