„Rettet den Islam“ – oder nur die Mullahs?

„Diesen Graben zwischen uns und dem Volk müssen wir so schnell wie möglich schließen, unser bisheriger Weg war ein Irrweg“, sagte in einer Videobotschaft Ayatollah Alavi Boroujerdi am ersten Mai dieses Jahres in Qom. Die Stadt gilt als heilig, hier pulsiert das Herz der Geistlichkeit schlechthin. Boroujerdis Großvater war der Gründer der حوزه , Howzeh, des Zentrums der schiitischen Gelehrsamkeit Irans. „So etwas hat es in der Geschichte der Geistlichkeit noch nicht gegeben: Man überfährt in dieser Stadt, in Qom, absichtlich einen Turban tragenden Mullah, dann steigt der Fahrer aus und versucht sicherheitshalber noch, den Geistlichen mit einem Messer zu töten. Aus den fernen Städten bekomme ich Botschaften von manchen Geistlichen: Sie fürchten sich, ihre Häuser zu verlassen“, beschreibt der Ayatollah die Situation seiner Zunft.

Alavi Boroujerdi ist ein Ostad, jemand, der in schiitischen Seminaren Rechtsfindung und Wege zur Fatwa lehrt, vereinfacht gesagt: Er bildet Großayatollahs, die „Quellen der Nachahmung“, aus.

Ende April 2023 erschoss ein Wachmann in einer Bankfiliale am Kaspischen Meer den Großayatollah Soleimani. Der Geistliche gehörte dem مجلس خبرگان , dem iranischen Expertenrat, an, jenem mächtigen 86-köpfigen Gremium, das über Khameneis Nachfolger entscheidet. Die Hintergründe der Tat blieben im Dunklen, politische Motive hätte es nicht gegeben, wiederholen unisono die offiziellen Medien. Es würde zu weit führen, wollte man alle Attacken, Schmähungen, Morde und Mordversuche im Einzelnen aufzählen und beschreiben, die die schiitischen Geistlichkeit derzeit über sich ergehen lassen muss.

Armut als Ehre, das war einmal

Nicht alle Mullahs gehörten zur Machtelite, viele von ihnen seien selbst unzufrieden und arm, warnen einige Journalisten, die die Gemüter besänftigen wollen. Armut war für die schiitische Geistlichkeit einst ein Markenzeichen, beinahe eine Ehre, mit ihr ging man regelrecht hausieren. Mit Stolz erzählt Ali Khamenei von seiner Kindheit voller Entbehrungen und davon, wie seine mehrköpfige Familie in einer Einzimmerwohnung im Armenviertel der Stadt Mashhad hausen musste. Heute unterstehen Khamenei Stiftungen und Holdings, deren Wert auf mehrere Hundert Milliarden Dollar geschätzt wird. Der Revolution sei gedankt.

Welche Sprengkraft die Kombination von Schiitentum, Geistlichkeit und politischer Opposition in sich birgt, wusste niemand besser als Ruhollah Khomeini, der Gründer der islamischen Republik selbst.

Der Mullahs eigene Justiz

Einer seiner ersten Befehle nach der Machtübernahme war deshalb die Gründung von دادگاه روحانیت , dem „Sondergerichts für Geistlichkeit“. Denn ein Mullah ist in der Islamischen Republik ein in jeder Hinsicht privilegiertes Wesen. Als offizieller Mittler zu Gott ist es undenkbar, dass er je vor einem „normalen“ Richter und einem weltlichen Gericht steht. Nur Kleriker richten über Kleriker.

Mohsen Kadivar (li.) und Yousefi Eshkevari, zwei Geistliche, die zur „Entkleidung“ und langjährigen Haft verurteilt wurden
Mohsen Kadivar (li.) und Yousefi Eshkevari, zwei Geistliche, die vom Sondergerichts für Geistlichkeit“ zur „Entkleidung“ und langjährigen Haft verurteilt wurden

Diese sonderbare Justiz, die von niemandem kontrolliert werden darf, kennt keine Verteidiger. Die Sondergerichte haben eine eigene Polizei und eine eigene Prozessordnung, verfügen über eigene Gefängnisse und urteilen nach eigenem Strafkatalog. Zu diesem gehören die Verbote, Seminare abzuhalten oder die Kleriker-Robe in der Öffentlichkeit zu tragen ebenso Verbannung, Haftstrafen und sogar Todesurteile.

Die Straftaten, mit denen sich diese Sondergerichte befassen, sind keine übliche Kriminalität. Es geht ausschließlich um Irrlehre, Abweichung und Propaganda. Mit diesen und ähnlichen Vergehen beschäftigen sich die Zweigstellen dieses Sondergerichts in zehn Provinzen des Landes. Die oberste Instanz befindet sich in der Pilgerstadt Qom, untergebracht in einem imposanten Gebäude, das mit modernster Technik ausgestattet ist. Alle bekannten schiitischen „Neudenker“ wie Modjtahed Shabetri, Mohssen Kadiver oder Yussefi Eshkewari wurden hier zur „Entkleidung“, zu langjähriger Haft und schließlich zur Verbannung verurteilt.

Das Verschwinden der letzten Säule

Geistlichkeit und Monarchie waren in der Historie des Iran zwei Säulen der Gesellschaft, sie hatten durch Jahrhunderte hindurch einen Machtmodus gefunden. Mal gut, mal schlecht, wie auch immer. Seit 44 Jahren gehört die eine Säule, die Monarchie, bekanntlich der Geschichte an. Und die zweite Säule, die Geistlichkeit, geht in Scham und Schande in der Gegenwart nieder. Was in der Zukunft geschieht, ist ungewiss.

Momentan sind wir Zeug*innen eines Jahrtausend-Ereignisses: des Verschwindens der letzten gesellschaftlichen Säule als moralische Stütze für die Gegenwart und mit ziemlicher Sicherheit auch für die Zukunft des Landes. Die islamische Revolution war nicht nur gegen die Monarchie gerichtet. Von Grund auf revolutioniert wurden auch Organisation, Finanzierung, Hierarchie, Bildung und Lehre sowie Gerichtsbarkeit der Geistlichkeit im Iran.

Wie groß ein Großayatollah war, bis er sich als „Quelle der Nachahmung“ präsentieren konnte, das bestimmte vor der Revolution eine besondere, durch die Jahrhunderte bewährte Tradition innerhalb der Geistlichkeit. Das war einmal. Heute führt in Qom, dem Zentrum der Gelehrsamkeit, der Geheimdienst der Revolutionsgarden das Wort und das Regiment, wer Großayatollah sein darf.

Auch hier sind nicht die „normalen“ Garden bestimmend, sondern die sogenannten „Quds-Brigaden“, jene mächtige Einheit der Revolutionsgarde, die die regionalen Bürgerkriege für den Iran managt. Am 4. Mai sammelte Ismail Ghaani, der Kommandant dieser Brigaden, die regimetreuen Ayatollahs um sich, erzählte von seinen Siegen in der Region und beschwor den Widerstandsgeist gegen den Feind, der von Beirut über Damaskus bis nach Qom herrschen müsse.♦

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