Atomdeal mit dem iranischen Regime:
Realpolitik oder Ohrfeige für die Freiheitsbewegung?

Wir erblicken jetzt einen fundamental anderen Iran. Damals hatten wir es mit einer scheinbar allmächtigen Herrschaft zu tun, heute mit einer wankenden. Das sozioökonomisch ineffiziente IRI-Regime hat vier Dekaden lang mittels Angst und Einschüchterung, Lügen und Desinformation regiert und bei den verarmten, erniedrigten Bürgerinnen und Bürgern Furcht, Frust und Wut erzeugt. Jetzt ist das Gleichgewicht zwischen Wut und Angst durch die Ermordung von Mahsa (Jina) Amini zugunsten der Wut umgeschlagen; aus der Wut erwuchs der Mut.

Die resultierende revolutionäre Erhebung mit Frauen als ihre Avantgarde erfordert, dass der Westen seine Iran-Strategie revidiert: Weg von Besänftigung, Beschönigung und Beschwichtigung hin zur Unterstützung der kämpfenden Bevölkerung des Irans. Solidarität mit den iranischen Bürger:innen ist gesinnungs- wie verantwortungsethisch das Gebot der Stunde – ja, es ist das Fundament für eine neue Realpolitik.

Warum ist jeglicher Deal mit dem Gottesstaat in dieser Situation ein Dolchstoß in den Rücken der iranischen Freiheitsbewegung?

Gewiss ist die Befreiung des Iran vom Joch des Mullah-Regimes in allererster Linie die Aufgabe der iranischen Bürger:innen. Die Solidarität der öffentlichen Meinung rund um die Welt könnte das Regime von einem Blutbad abhalten. Aber die Regierungen der westlichen Demokratien sollten ihren Anteil leisten, das Mullah-Regime auf der internationalen Bühne zu de-legitimieren.

Denn die beste Chance für eine halbwegs friedliche Überwindung des Gottesstaats ist die Spaltung des Regimes. Zwei Faktoren können diese Spaltung insbesondere fördern: der Druck des Aufstandes im Iran als das determinierende Element und die de-legitimierenden Handlungen der westlichen Demokratien.

Wenn am Horizont sichtbar wird, dass der Gottesstaat keine Zukunft mehr hat, dann suchen seine im Wesentlichen opportunistischen Parteigänger ein rettendes Ufer. Für viele wird dieses Ufer ein Nachgeben gegenüber der Opposition sein. Daher ist es unabdingbar, dass der Druck der Bürgererhebung weiterhin an Breite, Tiefe und Dynamik gewinnt. Dies zusammen mit der praktischen Solidarität der Demokratien signalisiert den Regime-Kadern, dass der Gottesstaat keine Zukunft mehr bieten kann. Das aktuelle Schweigen führender IRI-Kader könnte ein Vorbote aufkeimender Risse im Gottesstaat sein.

Es ist evident, dass das Regime und seine mittleren Kader Wert auf Signale legen, die als offene oder verdeckte Unterstützung des Westens hindeuten. Betrachten wir die Entwicklung seit dem Beginn des Aufstandes, so stellen wir fest, dass das Regime verzweifelt versucht hat, zumindest über den Austausch von Geiseln mit den USA ins Geschäft zu kommen – und es ist ihm gelungen. Trotz der Freude darüber fand dies aber zu falscher Zeit statt. Da das Regime so ein Signal braucht, beharrt es darauf, einen Deal mit den USA eingegangen zu sein, trotz des USA-Dementis. Fakt ist jedoch, dass solche Signale einerseits von den aufbegehrenden Bürger:innen als unsolidarischer Affront betrachtet werden, und andererseits den verunsicherten Regime-Kadern die Hoffnung vermitteln, dass der Westen nolens volens den Gottesstaat präferiert.

Es wäre verhängnisvoller, wenn der Westen unter den gegebenen Umständen die JCPOA erneuern würde. Der Führer des Gottesstaates würde dann, gewappnet mit den freigegebenen Geldern, weiter morden. So ein Schritt wäre moralisch verwerflich, als kurzsichtige „Real“-Politik zum Scheitern verdammt und könnte praktisch als ein Dolchstoß des Westens in den Rücken der revolutionären Freiheitsbewegung „Frau, Leben, Freiheit“ aufgefasst werden.

Wie bedrohlich ist das Atomprogramm der IRI?

Nachdem Donald Trump die JCPOA quasi gesprengt hat, hat das Mullah-Regime die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und ist zur Strategie der Abschreckung bzw. der atomaren Erpressung zurückgekehrt – und zwar mittels forcierter Uran-Anreicherung. Seine Botschaft lautet: „Wir könnten die Bombe bauen.“ Es ist eine Botschaft mit zweifacher Stoßrichtung: Zugeständnisse vom Westen zu erpressen und gleichzeitig in ihrem Windschatten das Atomprogramm weiter voranzutreiben.

Und die Drohung macht in der Tat bei den europäischen Regierungen Eindruck.

Gegen die Forderung der öffentlichen Meinung im Westen wie im Iran, dass der Westen dem Mörderregime jeglichen Anschein der Legitimität verweigern müsse, wenden westliche Politiker wie etwa die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock oder auch der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn heute ein, dass sie mit der Erneuerung der JCPOA den Griff des Regimes nach Atomwaffen vereiteln wollen. In der Regel wird mantramäßig wiederholt, dass dies zum Schutze Israels geschehe, wohl wissend, dass Israel zum Teil aus anderen Motiven selbst gegen die JCPOA ist.

Wie viel Substanz hat die IRI-Drohung? Wie begründet ist die westliche Befürchtung?

Das Teheraner Regime und seine Widersacher haben aus verschiedenen Motiven stetig versucht, dessen Atomprogramm als viel mächtiger und fortgeschrittener darzustellen, als es wirklich ist. Es ist wahr, dass die IRI jetzt in der Lage ist, innerhalb kurzer Zeit genügend hoch angereichertes Uran (HEU) für ein bis zwei Bomben herzustellen. Aber ist das ein Grund dafür, dass die westlichen Regierungen in Panik geraten und der iranischen Freiheitsbewegung in den Rücken fallen?
Der Weg bis zur Atombombe ist noch lang und genügend HEU bedeutet noch keine A-Bombe. Erst muss die Bombe selbst mit komplexen Komponenten gebaut und getestet und danach die Möglichkeit des Transports mit ballistischen Raketen geschaffen werden. Nicht jede ballistische Rakete ist als A-Bombenträger geeignet. Erstens braucht das Regime Erfahrung zum Bau von miniaturisierten A-Bomben. Zweitens erfordern die Steuerung der A-Bombe, der präzise Ort und zeitliche Ablauf der Detonation entsprechendes Know How und Erfahrung, die nicht trivial sind. Hinzu kommt, dass das iranische Atomprogramm immer noch im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages NPT relativ weitgehender IAEA-Überwachung unterworfen ist. Und was den zeitlichen Abstand des Regimes zur A-Bombe betrifft, so teile ich die Meinung vieler Experten, auch der israelischen Nachrichtendienste, die von zwei bis drei Jahren ausgehen.

Bedauerlicherweise hat der Westen bisher die Dynamik der iranischen Gesellschaft und die Möglichkeit der Überwindung des islamischen Regimes nicht in sein Kalkül einbezogen. Wir haben es leider auch im Westen vielfach mit kurzsichtigen Politiker:innen zu tun, denen die Fantasie dafür fehlt, was der Freiheitsdrang von Bürgerinnen und Bürgern in einer korrupten, ineffizienten und anachronistischen Diktatur bewirken kann. Eine kluge und nachhaltige Politik müsste darin bestehen, im Interesse des Iran, des Westens und der Welt die Freiheitsbewegung als eine ernsthafte Alternative zu einem Regime, das sich außerhalb des Zivilisationsbogens begeben hat, zu begrüßen und ins Kalkül einbeziehen. Erfreulicherweise sind die ersten Anzeichen für eine Konvergenz der wertegeleiteten mit einer interessengeleiteten (Real-)Politik am Horizont zum Vorschein gekommen.

Um aus diesem Schein ein Sein zu machen, wäre es situationsgerecht, wenn der Westen einstweilen folgende Mindestmaßnahmen ergreifen würde:

  • keine Deals mit dem Mullah-Regime unter den gegenwärtigen Umständen,
  • die Herabsetzung des Niveaus der diplomatischen Vertretungen,
  • Eintrag der Revolutionsgarden in die Terroristenliste,
  • Sperren der Konten der islamistischen Oligarchen,
  • keine militärischen Interventionen und keine die normalen Bürger:innen betreffenden Sanktionen,
  • Verurteilung des Regimes in den Gremien der UN wegen der brutalen Menschenrechtsverletzungen.

Kurzum: dem illegitimen Kindermörder-Regime die Legitimität entziehen!♦

Behrooz Bayat, 9. Januar 2023

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