Hilferuf aus der Pilgerstadt Maschad

Eine Audiodatei macht in den sozialen Netzwerken die Runde. Darin spricht eine renommierte Oberärztin von einer bevorstehenden Katastrophe in der iranischen Stadt Maschad. Sie bittet um sofortige nationale und internationale Hilfe beim Kampf gegen Corona, „um von den nächsten Generationen nicht der Untätigkeit beschuldigt zu werden“. 

Von Farhad Payar

Anfangs klingt die Stimme der Ärztin noch ruhig: „Salam! Ich möchte Euch um Hilfe bitten, damit wir eine Katastrophe abwenden, in deren Mitte wir stecken.“ Es spricht Nafiseh Saghafi, die Leiterin der Frauenabteilung des Krankenhauses Ghaem in der nordostiranischen Stadt Maschad. Die renommierte Medizinerin berichtet von einer Vielzahl an Covid19-Infizierten, die nicht mehr in den beiden wichtigen Krankenhäusern der Stadt – Ghaem und Imam Reza – aufgenommen werden könnten, von Personal- und Gerätemangel und von verzweifelten Familien, die „nach Möglichkeiten für die Behandlung ihrer Liebsten suchen“.

Mit jedem Satz klingt ihre Stimme aufgeregter und eindringlicher, dann bricht Saghafi in Tränen aus und erzählt weinend von jungen Patient*innen, die vor ihren Augen sterben, während sie machtlos zusehen muss. „Wir haben kein Serum, keine Sauerstoffgeräte, auch nicht genügend Bahren und Särge, um die Toten zu transportieren. Nicht einmal während des Krieges (gegen den Irak, 1980 – 1988) habe ich Derartiges erlebt“, erzählt sie mit Mühe weiter.

Saghafi fleht die Verantwortlichen der Stadt und der Regierung sowie die internationale Gemeinschaft an, so schnell wie möglich etwas zu tun, „um nicht von den nächsten Generationen der Untätigkeit gegenüber der Katastrophe beschuldigt zu werden“. In allen Abteilungen der beiden großen Krankenhäuser lägen nur noch Corona-Patienten, berichtet sie: „Selbst die Herz- und Chirurgie-Abteilungen sind mit ihnen belegt, und wir wissen nicht, was mit den Herzkranken oder anderen Patienten, die dringend chirurgische Operationen benötigen, passiert.“

Sechs ihrer Assistent*innen und drei Oberärzte seien selbst infiziert und damit nicht mehr einsetzbar, Pflegepersonal, Ärzt*innen – „alle, alle arbeiten Tag und Nacht, sind erschöpft, viele leiden unter Depression und machen trotzdem weiter.“

Nafiseh Saghafis Schilderungen in der zehnminütigen Audiodatei, die in einem Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, decken sich mit Berichten von Augenzeug*innen und Medien aus der Provinz. Videoaufnahmen zeigen Massengräber und überfüllte Kühllager der Krankenhäuser, in denen verstorbene Covid19-Patient*innen liegen. In einem Bericht der staatlichen TV-Station der Provinz Khorassan Razavi zählt die Reporterin die um sie herum liegenden Toten, hört dann auf und sagt in die Kamera: „Es sind Unzählige!“

Auch der Gouverneur der Stadt Maschad, Mohammad Reza Hashemi, berichtete am 10. August, dass man nicht genug Särge für die Corona-Toten habe, relativierte seine Aussage jedoch einige Stunden später vor Journalist*innen.

Die Pilgerstadt Maschad ist ein beliebtes Reiseziel für gläubige Schiit*innen aus der ganzen Welt. Laut der Stadtverwaltung besuchen dort jährlich bis zu 30 Millionen Menschen den Schrein des achten schiitischen Imam Reza. Auch jetzt sind laut Maschads Corona-Krisenstab 70 Prozent der Hotelbetten der Stadt belegt.

In Maschad gibt es nicht genug Särge, um die Toten zu transportieren!
In Maschad gibt es nicht genug Särge, um die Toten zu transportieren!

Wie in einem Schlachthof“

Da regimeunabhängige Medien im Iran nicht zugelassen sind, werden die sozialen Netzwerke als Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung angesehen. In den letzten Monaten sind sie voller Kritik am Pandemie-Missmanagement der Islamischen Republik. Insbesondere Staatsoberhaupt Ayatollah Ali Chamenei und der bisherige Gesundheitsminister Said Namaki werden für das „Massensterben“ verantwortlich gemacht. Chamenei hatte die Gefahr der Pandemie lange Zeit heruntergespielt und von der Bevölkerung verlangt, sich im Fall einer Infektion mit Gebeten und Besuchen der Schreine von „Heiligen“ zu helfen. Zudem verbat er die Einfuhr von US-amerikanischen und britischen Impfstoffen.

Auch der iranische Gesundheitsminister Said Namaki hatte das Ausmaß der Gefahr zunächst nicht erkannt und sich kaum um Impfstoffe aus dem Ausland gekümmert. Anfangs hatte er angekündigt, der Iran werde bis Mai 2021 zu einem der wichtigsten Exporteure eines Corona-Impfstoffs gehören, dann versprochen, bis Juli würden 14 Millionen Iraner*innen vollkommen geimpft sein. Jetzt beschreibt Namaki die Situation als „wie in einem Schlachthof“, wofür jedoch Irans Partner verantwortlich seien. Sie hätten Hilfe versprochen, ihre Versprechen aber nicht eingehalten.

Damit meint Namaki China und Russland, mit deren Hilfe das islamische Regime gerechnet hatte. Die Machthaber in Teheran und ihre Unterstützer im Ausland nehmen für ihren „antiimperialistischen“ Kampf eine wachsende Abhängigkeit des Landes von China und Russland in Kauf. Doch diese Länder haben wiederholt gezeigt, dass sie enge Beziehungen zu Islamisten nicht als Priorität einstufen.

Hunderte Millionen Euro für US-Medikament

Die Impfungen gegen die Covid-19-Erkrankung begannen im Iran erst am 12. Februar 2021 mit einer begrenzten Menge russischen Sputnik V-Impfstoffs und wurden mit dem chinesischen Impfstoff Sinopharm fortgesetzt. Offiziellen Angaben zufolge hatten bis zum 12. August erst weniger als vier Millionen der 84 Millionen Iraner*innen zwei Impfdosen bekommen, etwa 14 Millionen sollen einmal geimpft worden sein.

Alireza Zali, der Leiter des Corona-Krisenstabs der Hauptstadt Teheran, teilte am 11. August mit, das Land habe nur noch für fünf Tage Impfstoffe. Anstelle von Impfstoffen hat die Islamische Republik Medikamente zur Behandlung von Covid19 importiert. Zalis Angaben zufolge hat die Regierung für 720 Millionen Euro das „Anticorona“-Medikament Remdesivir gekauft. Angeblich verkürzt das Produkt des US-amerikanischen Konzerns Gilead Sciences die Erkrankung.

Zali kritisierte diese Maßnahme scharf – zurecht, denn mit der gleichen Summe hätte das Land bis zu 400 Millionen Dosen Astra-Zeneca-Impfstoff importieren können.

Jährlich besuchen Millionen Menschen den Schrein des achten schiitischen Imam Reza
Jährlich besuchen Millionen Menschen den Schrein des achten schiitischen Imam Reza

Zali bezeichnet auch die Rückgabe internationaler Hilfen sowie die Verschleierung von Todesfällen als falsche Maßnahmen: „Als die Experten der Weltgesundheitsorganisation in den Iran kamen, haben wir die Zahl der Todesopfer vor ihnen versteckt“. Laut Zali hat Teheran auch die Hilfe westlicher Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen abgelehnt. Selbst Hilfslieferungen und -kräfte, die bereits in Teheran angekommen waren, habe die Regierung am Flughafen zurückgeschickt.

Hohe Sterblichkeitsrate im Iran

Nach jüngsten Statistiken des iranischen Gesundheitsministeriums sterben täglich im Durchschnitt 520 Personen an Covid19. Danach stirbt alle drei Minuten ein*e Iraner*in an den Folgen einer Corona-Infektion. Die Gesamtzahl der registrierten Todesfälle gab die Regierung am 13. August mit 96.742 Personen an.

Vom 12. bis 13. August wurden landesweit über 39.000 Neuinfizierte registriert, von denen 4.707 ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Damit stieg die offizielle Gesamtzahl der Covid-19-Patient*innen im Land auf 4.359.385. Unabhängige Beobachter*innen und manche Verantwortliche meinen, die tatsächlichen Zahlen seien mindestens doppelt so hoch.

Licht am Ende des Tunnels?

Die steigende Zahl der Opfer verbunden mit der Zunahme der nationalen und internationalen Kritik haben dazu geführt, dass auch Ali Chamenei die Notwendigkeit der Pandemiebekämpfung eingesteht. Er bezeichnete Covid19 am 11. August als „das erste und dringendste Problem des Landes“ und forderte eine flächendeckende Versorgung mit Corona-Impfstoffen.

Doch ob und wie das geschehen soll, weiß bisher niemand. Die Staatskassen des Iran sind fast leer, die inländischen Impfstoffe haben sich als nicht besonders wirksam erwiesen und eine Aussicht auf den Import westlicher Impfstoffe gibt es nicht. Der neue iranische Präsident Ebrahim Raissi nannte das Einfuhrverbot von US-amerikanischen und britischen Impfstoffen eine „weise Entscheidung des Führers zum Schutz der Bevölkerung“. Und sein designierter Gesundheitsminister Bahram Eynolahi hat noch im Januar den damaligen iranischen Präsidenten Hassan Rouhani gebeten, neben amerikanischen und britischen auch französische Impfstoffe zu boykottieren.♦

© Iran Journal

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