Ein mobiles Zimmer für sich allein

In ihrem Roman „Ungebremst durch Kermanschah“ porträtiert die iranische Autorin Maryam Djahani eine Frau, die im Iran ihre Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens leben will – und ihr Geld als Taxifahrerin verdient. 

Von Fahimeh Farsaie

Eigentlich könnte alles so einfach sein: Shohre hat zufällig Farhad kennengelernt und ist völlig aus dem Häuschen, wenn seine Nummer auf dem Display ihres Handys erscheint. Farhad ist ein echter „Gentleman“, hat jahrelang im Ausland in Holland gelebt, ist aber aus Liebe zu seiner Geburtsstadt Kermanschah im Westen Irans zurückgekehrt, um den jungen Männern in seinem Club Ringsport beizubringen. Über diese positiven Eigenschaften hinaus hat der tüchtige Verehrer Shohres kein Problem mit „raubeinigen Frauen“ wie ihr. Ihr „männliches Verhalten“ war dagegen für Shohres Ex-Mann Hamed der ausschlaggebende Scheidungsgrund.

Boy meets Girl

So könnte sich die Geschichte des Debüt-Romans der 35-jährigen iranischen Schriftstellerin Maryam Djahani nach dem klassischen Plot Girl meets Boy als Beginn einer Liebesbeziehung entwickeln. In „Ungebremst durch Kermanschah“ geht es aber eher um die Unmöglichkeit der Liebe zwischen Mann und Frau, wenn Girl den Anspruch erhebt, dass ihre Träume und Sehnsüchte genauso viel wert sind wie die von Boy. Die Protagonistin des Romans, die sich nach einem selbstbestimmten und finanziell unabhängigen Leben sehnt, stellt dabei eine für sie existenzielle Frage: Wie viel Modernität verträgt eine sogenannte Metropole wie Kermanschah, deren Männer eher eine Bergbauern-Mentalität haben?

Liebe im Alltag

Buchcover
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Ausgelebt wird der anfängliche Liebesrausch von Shohre und Farhad nicht in der romantischen Atmosphäre der Zweisamkeit, sondern den islamischen Regeln der iranischen Zensurbehörden entsprechend, oft in Anwesenheit anderer, und vor allem per Handy-Gesprächen und -Nachrichten, die ständig von den Umständen des hektischen Alltags unterbrochen werden. Dennoch genießt Shohre die Intimität der flüchtigen Momente und lernt in diesen das Wort Glück neu zu buchstabieren.

Mit dem Unglück ist sie seit ihrer Kindheit vertraut und war doch nie gegen dessen Folgen gefeit. Dass diese Situation sich im Roman nicht ändern wird, liegt auf der Hand. Djahani erzählt auf 247 Seiten von Shohres turbulentem Leben und dessen Höhen und Tiefen in Vergangenheit und Gegenwart. Es ist absehbar, dass die tragischen Ereignisse den großen Teil ihrer Geschichte ausmachen. Der Roman strahlt jedoch eine gewisse Leichtigkeit aus – weil die Ich-Erzählerin Shohre ihre bitteren Erlebnisse nicht mit Schwermut und Trübsinn, sondern mit Humor und beißender Ironie schildert.

Sympathische Frauenfigur

Shohre ist Anfang dreißig, geschieden und die erste und einzige Taxifahrerin in der religiös-konservativen Metropole Kermanschah, die ihr eher wie ein Dorf mit frauenverachtenden Sitten und Strukturen vorkommt. Sie kämpft täglich und mit allen Mitteln für ihre Würde und Eigenständigkeit, nicht zuletzt mit einer „Du-kannst-mich-mal“-Haltung und einer Lenkradkralle aus Stahl. Shohre ist sich ihrer Hoheit als „unumstrittene Herrscherin der schwankenden Kabine“ – ihres Taxis – bewusst und verteidigt es gegenüber allen, die ihre Souveränität und Werte in Frage stellen: die gesamte patriarchale Gesellschaft nämlich, in Gestalt ihrer Mutter, ihres Sandkastenfreunds und ewigen Verehrers Babak sowie ihrer bunt gemischten Fahrgäste.

Männlicher Kosmos

Mit der Schilderung solcher Begegnungen und Beziehungen gelingt es Maryam Djahani wunderbar, eine Fülle von Nebengeschichten organisch in die Haupthandlung des Romans einzubetten und damit ein ausgefallenes Panorama nicht nur der Provinz Kermanschah, sondern der ganzen heutigen, frauenfeindlichen Gesellschaft Irans zu entwerfen. Nebenfiguren wie den ihren begegnet man in jeder iranischen Stadt: eine alte Frau, deren Tochter im Gefängnis sitzt, weil sie sich die sexuellen Übergriffe ihres Chefs nicht gefallen lassen wollte, eine ehemalige National-Handballspielerin, die drogenabhängig wurde und nun auf der Straße lebt, eine Kunstliebhaberin wie Mahbube, die geschiedene Cousine Shohres, die ihre Tochter nicht besuchen darf, weil das Gesetz und ihr Ex-Mann es verbieten.

Freie Frau

Die selbstbewusste Protagonistin des Romans bewegt sich trotz all der herrschenden frauenfeindlichen Gesetze und Sitten optimistisch in dieser männerdominierten Welt, träumt von besseren Zeiten und strebt ständig nach ihrem bescheidenen privaten Glück. Farhad hat seine Liebe zu ihr schon längst signalisiert. „Glaub mir, Shohre, ich bin stolz, mit einer im wahrsten Sinne des Wortes freien Frau Freundschaft geschlossen zu haben.“ Dass Shohre und Farhad unterschiedliche Definition von einer „freien Frau“ haben, erfährt die Taxifahrerin erst später, aber nicht zu spät.

Immer mehr Frauen im Iran arbeiten als Taxi-, Bus- oder LKW-Fahrerin
Immer mehr Frauen im Iran arbeiten als Taxi-, Bus- oder LKW-Fahrerin

Kindlicher Akt“ oder wahre Liebe?

Bis dahin fährt sie selbstsicher und geduldig mit ihrem Taxi quer durch die Metropole, vorbei an großen Kreuzungen, schmalen Straßen und historischen Plätzen. Dabei beschreibt sie die bedrückende Atmosphäre, Geräusche und Gerüche der Stadt sowie legale und illegale Geschäfte, während sie auch ihr eigenes Leben reflektiert: „Ich bin also süchtig danach, mit einem Mann zusammen zu essen? Oder nach den Händen dieses Mannes, die nach dem Essen ins Wasser und den Schaum des Spülbeckens sinken und zusammen mit einem Paar Frauenhänden das Geschirr abwaschen?“ fragt sich Shohre, während Farhad sie mit Anrufen und Liebesnachrichten bombardiert und auf eine positive Reaktion von ihr wartet: „Ehrlich gesagt konnte ich kein Auge von dir lassen, Shohre.“

Ist das lediglich ein Lippenbekenntnis?

Obwohl die romantische Taxifahrerin zögernd handelt und ihre Beziehung wie einen „losen Reifen unter einem Wagen“ sieht, „der einen Abhang hinunter rollt“, trifft sie sich weiter mit ihm, um seine Gefühle und unkonventionellen Einstellungen einordnen zu können. Farhad hatte schon von seinen Liebschaften in Holland erzählt, ihnen aber keine zu große Bedeutung beigemessen und sie als „kindliche Akte“ bezeichnet. Vielleicht glaubt er nun, dass die Zeit für eine wahre Liebe reif ist – bekanntlich kann Liebe Berge versetzen.

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Das Leben: ein Geschenk

Parallel kümmert sich Shohre um die verzweifelte Mahbube, um die einsame Nachbarin, um die drogenabhängige Ex-Handballspielerin, um die täglichen Einkäufe ihrer Mutter, die dabei ist, die Vorbereitungen eines glanzvollen Beschneidungsfestes für ihren Enkel zu treffen. Obwohl diese beruflichen und moralischen Pflichten sie seelisch und körperlich zermürben, ist sie froh und zufrieden, dass sie ein erfülltes, vielfältiges und unabhängiges Leben führen kann und nicht auf die „Gnade“ der anderen wie ihrem Ex-Mann oder ihrer traditionellen Mutter angewiesen ist. Sie hat nun ein mobiles Zimmer für sich allein und ist überzeugt, dass das Leben nicht nur ein Geschenk, sondern auch das ist, was Frau daraus macht.

Glück hat viele Gesichter

Obwohl es das Leben wahrlich nicht gut mit Shohre meint, meistert sie ihr Schicksal – mit einer guten Portion Ironie und ohne ein Wort des Jammers. Schlagfertig und spritzig fordert sie diejenigen heraus, die von betonfesten patriarchalischen Konventionen überzeugt sind und sie in Ritualen und Brauchtümern weiter pflegen – wie Beschneidungszeremonien oder Ringsport –, um der von den islamischen Gesetzen und der Gesellschaft geförderten Männlichkeit zu huldigen. Dabei versuchen sie, mit falscher Moral Frauen wie Shohre und ihre Cousine zu kontrollieren und aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Shohre ist mit ihrem mobilen Zimmer offensichtlich ein Dorn im Auge derjenigen, die wie Babak mit ihrer edlen Shah maghsoudi-Gebetskette durch die Gegend laufen und doch jedes Problem mit dem Einsatz ihrer Schurkentruppe lösen.

Eine neuartige Frauenfigur

Maryam Djahani baut in ihrem Roman auf Antagonismen und wechselt gekonnt zwischen zwei Erzählebenen, um Shohre zu porträtieren. Sie ist unter den Frauenfiguren der Literaturlandschaft der letzten dreißig Jahren im Iran ein Novum. Ihr ambivalent gebastelten Charakter, ihre Ambitionen und souveräne Haltung sind Ausdrücke eines freien Frauentyps, der nicht nur die zugunsten der Männer aufgebauten Strukturen in der Gesellschaft in Frage stellt, sondern auch die daraus resultierten Werte, die auch die Frauen verinnerlicht haben und für bare Münze nehmen.

Das Schreiben ist immer ein Gespräch. Es überwindet die Grenzen von Raum und Zeit. So erzählt Shohre uns ihre Geschichte: manchmal humorvoll oder zornig, auch ironisch, mitunter bitter, aber keineswegs ohnmächtig.♦

Maryam Djahani: Ungebremst durch Kermanschah, sujet Verlag, 267 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-96202-072-9.

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