Buchbesprechung: Das Paradies meines Nachbarn

Krieg, Flucht, Exil und die Frage nach der eigenen Identität sind zentrale Themen von Nava Ebrahimis zweitem Roman „Das Paradies meines Nachbarn“, zugleich ist er eine Reise zwischen München, Teheran und Dubai. Gerrit Wustmann hat das Buch gelesen.

„Nie wieder Opfer“, sagt Ali Najjar. „Und wenn ich kein Opfer sein will, muss ich Täter sein. Für Ausländer wie dich und mich gibt es nichts dazwischen. Entweder, ich passe mich an, ordne mich unter und bleibe mein Leben lang der nette, ewig dankbare Typ aus dem schlimmen Land, dem sie gnädigerweise Asyl gewährt haben und auf den sie immer ein kleines bisschen hinabschauen dürfen. Oder aber ich spiele die Rolle des erfolgreichen Arschlochs und mache mir meine eigenen Regeln. Dafür muss ich immer besser sein als die anderen. Viel besser.“

Najjar, erfolgreicher und mit der nötigen Portion Arroganz gesegneter Agenturchef sitzt mit dem Designer Sina Khoshbin in einem Tanzschuppen in Dubai, und während die beiden Berufsästheten die wohlgeformten Körper der anwesenden Frauen taxieren, erklärt er die Welt – seine Welt. Es ist eine Welt, die kurz vor dem Zusammenbruch steht, aber das weiß Najjar in dem Moment noch nicht, auch wenn er es ahnt.

Ali und Sina sind die Protagonisten in Nava Ebrahimis neuem Roman „Das Paradies meines Nachbarn“. Es ist ihr zweites Buch. Ihr Debüt „Sechzehn Wörter“ (2017) war, so kann man sagen, aufsehenerregend. Die Geschichte um Mutter und Tochter, die in ihr Heimatland Iran reisen und dort auf vielerlei Weise mit elementaren Fragen über Heimat und Identität konfrontiert werden, wurde von der Kritik gefeiert und mit dem Österreichischen Buchpreis und dem Morgenstern-Preis bedacht

Die Frage nach der Identität

Der in Teheran geborenen und seit dem dritten Lebensjahr in Deutschland und Österreich lebenden Autorin gelang es auf Anhieb, sich mit einer unverwechselbaren Stimme und einer komplexen, aufwühlenden, zugleich aber federleicht lesbaren Geschichte als hochtalentierte Erzählerin und genaue Beobachterin zu etablieren.

Und auch der zweite Roman pendelt zwischen Deutschland und Iran, zwischen München, Dubai und Teheran, zwischen der aalglatten Hochglanzwelt der Produktdesigner und des unerträglich inhaltsleeren Werber-Gesabbels einerseits und der düsteren Welt des Iran-Irak-Krieges andererseits. Und einmal mehr wird, wie das Eingangszitat demonstriert, die Frage nach der Identität gestellt.

Ali Najjar ist ein Lebemann mit großer Klappe, der sich seine Identität selbst geformt hat, nachdem er die Schlachtfelder des Krieges überlebt und später im Kofferraum eines Schmugglerautos erst in die Türkei und dann nach Deutschland gelangt ist. All das hat er hinter sich gelassen – zumindest redet er sich und anderen das ein. Doch als ihn die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreicht und der Waisenjunge Ali-Reza, der damals seinen Platz eingenommen hatte, ihn zur Übergabe eines letzten mütterlichen Briefes nach Dubai beordert, gerät Najjars scheinbar so klar konturierte Welt ins Wanken. Der Mut verlässt ihn, auch wenn er das nicht zugibt. Er bittet Sina Khoshbin, ihn zu begleiten.

Sinas verfrühte Midlife-Crisis

Sina ist Halbiraner, spricht nichtmal Persisch, ist in Deutschland geboren, verheiratet, eine Tochter, designt Kaffeekannen und ähnliches Gedöns. Mit Iran hat er sich nie ernsthaft befasst, ist nie dort gewesen. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem er sich nicht mit der lästigen Frage, woher er denn komme, herumschlagen muss. Sina versinkt gerade, mit Ende dreißig, in einer verfrühten Midlife-Crisis, er fremdelt mit seiner Tochter, und seine Ehe zeigt deutliche Risse, aber er wagt es nicht wirklich, die Probleme anzupacken. Da kommt ihm Najjars Bitte, ihn nach Dubai zu begleiten und den Brief an seiner Stelle in Empfang zu nehmen, gerade Recht: Eine Flucht, wenn auch nur für ein paar Tage.

Während Ali Najjar gezwungen wird, sich nicht nur mit seinen Wurzeln, sondern mit seiner größten Lebenslüge auseinanderzusetzen, misslingt allein der Versuch bei Sina, der immer wieder vergeblich versucht, seinen iranischen Vater zu kontaktieren, bis er sich schließlich in die Gleichgültigkeit ergibt.

Ganz anders Ali-Reza, die eigentlich zentrale Figur der Geschichte: Er sitzt im Rollstuhl, hat mit den Spätfolgen eines irakischen Giftgasangriffs zu kämpfen – Giftgas, das unter anderem Deutschland geliefert hatte; deutsche Firmen waren es auch, die an dem Massensterben auf den Schlachtfeldern prächtig verdient haben.

Profit mit dem Tod

Und es sind solche Einsprengsel, die den Leser immer wieder ins Jetzt bringen, ihm deutlich machen, dass es hier nur zum Teil um einen Krieg in den Achtziger Jahren geht. Denn auch heute liefert Deutschland Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete und macht eine Menge Geld mit Tod und Zerstörung, während das Ergebnis dieser Verheerungen – Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen – mit einer immer rigideren Politik außen vor gehalten werden soll.

Es wird nicht ausgesprochen, aber es steht überall zwischen den Zeilen, dass Ali Najjar weiß: Diese Menschen, die heute auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland kommen, das könnte auch ich sein. Ich könnte jeder einzelne von ihnen sein.

Nava Ebrahimi lässt sich Zeit damit, ihre Geschichte aufzubauen, ihre Figuren nahbar zu machen, und lange weiß der Leser nicht, welches Ziel der Roman eigentlich ansteuert. Das sorgt dafür, dass die finale Enthüllung, die Wahrheit über Ali und Ali-Reza, nur eine umso heftigere Wucht entfaltet.

Das Paradies meines Nachbarn ist letztlich auch die Hölle meines Nachbarn – und die eigene. Es ist ein Buch, das nicht nur in die deutsch-iranische Geschichte und ihre Auswirkungen auf das Heute eintaucht, sondern auch ein Buch über das Leben als Exilant, über die Bindung an die Vergangenheit, über Heimaten und Konstruktion von Heimaten. Es ist ein Buch so zeitgemäß und relevant wie ein Roman im Jahr 2020 nur sein kann.♦

Gerrit Wustmann

Nava Ebrahimi: „Das Paradies meines Nachbarn“, Roman, btb Verlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-442-75869-2

© Qantara

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