Der Wandel manifestiert sich in den Haaren der Frauen
Das erwartete Verhör
Früh am Samstag stellte ich die Einladung zu der geplanten Gedenkversammlung am Dienstagnachmittag ins Netz. Sie breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Nur zwei Stunden später erhielt ich einen Anruf von einer anonymen Nummer. Der Anrufer, der förmlich und höflich sprach, ohne sich persönlich vorzustellen, bestellte mich für den kommenden Tag zum Verhör in eines der Büros der Sicherheitskräfte ein. Es überraschte mich nicht, da bei meinen Reisen in den Iran solche Vorladungen längst zur Routine geworden sind. Die Sitzung wird grundsätzlich von zwei Beamten durchgeführt. Diese wechseln häufig. Trotzdem sind sie jedes Mal bestens über mein Leben informiert. Die Aktion läuft nach einem wiederkehrenden Muster, bei dem bestimmte Schlüsselsätze häufig und bewusst fallen.
„Nezam (auf deutsch „System“, ein Begriff, der ehrfürchtig ausgesprochen wird und das Regime meint) bedauert den Vorfall mit ihren Eltern“, „überall auf der Welt passieren solche Vorfälle. Nezam hat aber nach den eigenen moralischen Maßstäben bereits entsprechend gehandelt und die Täter belangt“.
Auf meine Gegendarstellung, dass meine Eltern Opfer von politischen Verbrechen wurden und es sich keineswegs um einen „Vorfall“ gehandelt habe, dass die Befehlsgeber der Morde, die namentlich in der Ermittlungsakte aufgeführt worden seien, etwa der amtierende Informationsminister, nicht juristisch belangt wurden, gehen sie nicht ein. Das sei kein Thema dieser Sitzung, sondern die Aufgabe der Justiz, die sich an islamische Vorschriften und Gesetze hielte.
Ein weiteres Argumentationsmuster taucht bei der Frage der Verantwortung auf. Jedes Jahr muss ich mir anhören, dass ich für jegliche Eskalation der Versammlung, ob im Haus oder auch auf den benachbarten Straßen, verantwortlich sei und dafür auch belangt werden würde. Es wird behauptet, dass dubiose Gestalten kommen würden, die den Anlass für eigene konterrevolutionäre Ziele missbrauchen und Unruhe stiften wollten. „Nezam könne das nicht dulden“, wird dabei immer wieder betont. Meine Versuche, Klarheit in die Sache zu bringen und zu hinterfragen, was eine Eskalation eigentlich sei und wer dubios und konterrevolutionär sein könnte, scheitern immer aufs Neue. Es ist ein zermürbender Prozess, dem ich mich aussetzen muss. Wie lange das Verhör dauert und wie viel Druck auf mich ausgeübt wird, hängt von dem gerade herrschenden politischen Klima im Land ab. Der Brisanz der aktuellen Lage entsprechend dauerte die Sitzung diesmal länger an als in den vergangenen Jahren.
Frau, Leben, Freiheit
Am Schluss wurde mir ein Blatt Papier gereicht, damit ich den Zweck und den Ablauf der Versammlung schriftlich niederlege. Ein Routineprotokoll, mit gleichbleibenden Komponenten hinsichtlich der Fragen nach dem Warum, Wo und Wann. Diesmal war es mir jedoch ein Anliegen, schriftlich zu fixieren, dass Rufe nach Freiheit Teil unserer Versammlung sein würden. So auch die Parole: „Zan Zendegi Azadi – Frau Leben Freiheit“. Darauf folgte die Gegendarstellung des Beamten. Er bemerkte, dass Nezam entsprechend den islamischen Werten die Frauen und die Freiheit achte und hochschätze.
Am Ende der Sitzung erklärte der Beamte, der dem Verlauf mehr als Beobachter beigewohnt hatte, mit einem Satz, der einem Fazit gleichkommen sollte: „Frau Forouhar, Sie sind sehr unfair“. Als ich überrascht zu ihm aufblickte, ergänzte er, ich stellte alles in negativem Licht dar und verhielte mich Nezam gegenüber unfair. Auch diese Aussage entspricht einem wiederkehrenden Muster: Nezam und seine Handlanger übernehmen keine Verantwortung, eher beanspruchen sie in ihrer eingespielten Taktik die Opferrolle für sich.
Auf dem Rückweg fuhr ich an mehreren Bannern vorbei, auf denen der 9-jährige Kian, der jüngst während einer Protestaktion in der Stadt Ize getötet wurde, abgebildet war. Das Auto, in dem Kian und seine Familie saßen, war unter Beschuss geraten. Sein Vater wurde schwer verletzt. Seine Mutter äußerte sich in sozialen Netzwerken und benannte ein uniformiertes Sicherheitskommando als Täter. Nezam aber behauptete, dass dieser Anschlag von Terroristen der IS durchgeführt worden wäre. Gemäß dieser Auslegung wurde der 9-Jährige kaltschnäuzig zum Märtyrer der Islamischen Republik ernannt. Auf den Bannern war er lächelnd abgebildet, gekleidet im Anzug. Daneben war der Spruch zu lesen: „Refigh e Shahidam“, was so viel wie „Mein Märtyrer-Kamerad“ bedeutet.
#KianPirfalak hatte vor, Erfinder zu werden. Wurde aber nur 9 Jahre alt. Mittwochabend wurde er im Auto seines Vater von "Sicherheitskräften" des islamischen Regimes getötet. Bei Protesten in Stadt #Izeh wurden mind. 6 weitere Menschen erschossen. #IranProtests2022 #کیان_پیرفلک pic.twitter.com/5yfjxQRDOj
— Iran-Journal (@iran_journal) November 17, 2022
Ein Baum trägt nach 24 Jahren „Früchte“
Am Todestag meiner Eltern bereitete ich gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Verwandten und Freunden das Haus für die anstehende Versammlung vor. Einige zivil gekleidete Handlanger des Nezam hatten sich bereits seit dem frühen Vormittag vor dem Haus meiner Eltern verteilt und entlang unserer Gasse aufgestellt. Meine Sorge war groß: die Furcht vor einer Eskalation, vor einer Attacke der Schlägertrupps, die Angst um meine Gäste, die geschlagen werden könnten, um das Haus, das zum Schauplatz von wütendem Randalieren werden könnte, die Angst um meine betagten Tanten, die Tapferkeit ausstrahlten.
Die hochgewachsene Magnolie, die meine Mutter vor Jahrzehnten in unserem Garten gepflanzt hatte, die zu einem Baum angewachsen und im Laufe der letzten Jahre langsam eingegangen war, wurde mit kleinen Zetteln behängt, worauf geschrieben stand: „Zan Zendegi Azadi; Frau Leben Freiheit“. Später verbreiteten sich die Bilder des Baumes in den sozialen Netzwerken. Unter einem stand geschrieben: „Der Baum, welchen Parvaneh vor Jahrzehnten eingepflanzt hat, trägt nun 24 Jahre nach ihrer Ermordung die schönsten Früchte unseres Landes.“
Schon vor dem angekündigten Beginn der Versammlung standen die Teilnehmer*innen dicht nebeneinander im Gebäude und im Hof des Hauses. Es herrschte eine Atmosphäre der Entschlossenheit und Achtsamkeit, gepaart mit der Freude am Beisammensein. Es kam mir vor, als ob die Menschen und das Haus zu einem großen Körper zusammengewachsen seien, der Würde ausstrahlte. Das Publikum war jung, vielleicht das jüngste, welches das Haus bis zu diesem Zeitpunkt empfangen hatte.
Während der Veranstaltung gingen die vermummten Abgesandten der Kontrollorgane unsere Gasse auf und ab, filmten und fotografierten diejenigen, die sich dem Haus näherten, mit überdimensionierten Kameras, mahnten sie vor Folgen, stifteten Angst und Unruhe.
Die schwere Last der Angst und der Unsicherheit, die ich vor und während meine Reise mit mir getragen hatte, fielen von mir ab als ich mich in der Runde der Anwesenden wiederfand, als wir gemeinsam die alte verbotene Hymne sangen, die meine Eltern so liebten, als wir gemeinsam laut des Slogans unserer Gegenwart anstimmten „Zan Zendegi Azadi“.

Alireza Adineh, Ayda Amidi, Ruzbeh Sohani
Ich verließ den Iran nach ein paar Tagen. Meine Ausreise wurde nicht verhindert. Als ich schon zuhause in Deutschland war, wurden drei meiner Freunde, die bei der Veranstaltung zugegen waren, verhaftet, allesamt junge Poeten und Mitgliedern des Schriftstellerverbands. In den Berichten heißt es, die Verhaftungen seien gewaltvoll verlaufen. Sie hatten mir von einer Versammlung erzählt, die sie zum Andenken an die beiden ermordeten Schriftsteller Mohammad Mokhtari und Mohammad Jafar Pouyandeh organisieren wollten. Diese waren im Herbst 1998, zwei Wochen nach meinen Eltern, vom Geheimdienst der Islamischen Republik verschleppt und getötet worden.
Am Ende dieses Berichts angelangt, möchte ich ihre Namen aussprechen: „Alireza Adineh, Ayda Amidi, Ruzbeh Sohani“- stellvertretend für mehr als 15.000 Menschen, die nun im Zuge der aktuellen Repressionswelle im Iran im Gefängnis sitzen. Stellvertretend für viele, für die das eigene Land zur Falle geworden ist, die vielleicht fliehen werden, um ihr Leben zu retten.
Das Exil hat viele Gesichter und Namen, unterschiedliche Herkünfte und Schicksale. Es entsteht jedoch immer aus solchen Momenten heraus.♦
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