„Besonders stark an den Rand gedrängt“: LGBTQ im Iran
Laut einer Umfrage erleben 62 Prozent der LGBTQ-Community im Iran Gewalt durch Angehörige ersten Grades. Aber auch staatliche iranische Institutionen diskriminieren und bedrohen Angehörige sexueller Minderheiten. Iran Journal hat mit Shadi Amin, einer der Initiator*innen der Umfrage, gesprochen.
Die strukturelle Gewalt beginnt schon in der Schule, so eines der Ergebnisse der Umfrage. Die Hälfte der dabei Befragten hat psychischen Druck und körperliche Gewalt durch Mitschüler*innen oder Schulpersonal erlebt. Auch Justiz, Polizei und Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems tragen zur strukturellen Gewaltspirale bei.
Die Umfrage unter rund 230 Angehörigen der iranischen LGBTQ-Community wurde von der Organisation „6Rang“ (Sechs Farben) durchgeführt, einem Netzwerk iranischer Lesben und Transgender, das sich vom Ausland aus für die Rechte sexueller Minderheiten in der Islamischen Republik einsetzt. Die Fragebögen wurden über die Sozialen Netzwerken verteilt, die Ergebnisse wurden Anfang September unter dem Titel „Verborgene Wunden; eine Studie über Gewalt gegen sexuelle Minderheiten im Iran“ veröffentlicht.
Die LGBTQ-Community im Iran stehe noch weniger als Frauen unter dem Schutz des Gesetzes, so die Geschäftsführerin von 6Rang, Shadi Amin. Wenn Angehörige sexueller Minderheiten Strafanzeigen erstatten wollten, komme es vor, dass sie auch auf Polizeistationen oder durch die Justiz Gewalt erfahren. Iran Journal hat mit Shadi Amin gesprochen.
IJ: Frau Amin, ist das die erste Studie ihrer Art?
Shadi Amin: Wir haben bereits in der Vergangenheit sporadisch Erhebungen durchgeführt. Am Anfang der Corona-Pandemie haben wir beispielsweise nach den Folgen der Quarantäne und der Angst vor Erkrankung unter der LGBTQ-Community gefragt. 2015 haben wir die Ergebnisse einer anderen Studie im Buch „Geschlecht X“ veröffentlicht. In den vergangenen fünf Jahren und aufgrund der Veränderungen der LGBTQ-Community mussten die Daten aktualisiert werden. Wir haben es mit einer jungen Community zu tun. Neu ist, dass wir den Fokus auf verschiedene Arten von Gewalt und verschiedene Institutionen gelegt haben und die Verbindung zwischen der strukturellen und der familiären und gesellschaftlichen Gewalt herstellen.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Befragten ausgewählt?
Wir stehen mit einer großen Community im Iran in Verbindung. Rund 14.000 Menschen sind über unsere Accounts in den Sozialen Netzwerken mit uns in Kontakt. Die Online-Befragungen liefern allerdings nicht immer zuverlässige Auskünfte. Die Geschichten der Trans- und Homosexuellen klingen jedoch nicht übertrieben und entsprechen unseren Kenntnissen. Wir stehen mit Menschen in Kontakt, die uns ihr gewaltvolles und schmerzhaftes Leid zuhause, auf der Straße, bei der Arbeit oder in der Schule anvertrauen; genau die schlechten Erfahrungen, über die sie vorher nie gesprochen haben.
Wie entstand das gegenseitige Vertrauen?
6Rang hat eine zehnjährige Erfahrung im Bereich LGBTQ-Community im Iran. Unser Fokus liegt auf der Veränderung der Einstellungen von Familien und Institutionen, die Hass gegen sexuelle Minderheiten verbreiten. Durch die langjährige Erfahrung sind wir in der Lage, Signale und Anzeichen richtig zu interpretieren und unser Klientel zu erkennen. Einige kennen wir bereits seit Jahren. Wir haben unsere Online-Community befragt und die Fragebögen an diejenigen geschickt, mit denen wir bereits in Kontakt standen.
Die Studie stellt unter anderem die Familie als Ausgangspunkt von Gewalt und Belästigung dar. Die Mehrheit der LGBTQ-Community sagt jedoch, in der Schule insbesondere während der Pubertät Gewalt erlebt zu haben. Wie haben Sie Gewalt kategorisiert?
Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen der Gewalt innerhalb der Gesellschaft und der Familie und der strukturellen Gewalt im Schulsystem, bei der Justiz und im Gesundheitssystem. Bei den Institutionen haben mehr als 46 Prozent der Befragten in der Schule Gewalt und Belästigung erlebt. Darauf folgt die Justiz und dann kommt das Gesundheitssystem, also Psychologen, Ärzte, medizinische Einrichtungen und das Krankenhauspersonal. Knapp die Hälfte der Befragten wurde wiederum in der Schule schikaniert. Die Schüler*innen verbringen viel Zeit in der Schule und beobachten sich gegenseitig. So fallen verschiedene Verhaltensweisen auf. Das lässt sich bei Jungen einfacher beobachten. Denn die homosexuellen Jungen, die zum Teil der geschlechtstypischen Auffassung einer Gesellschaft von einem „Mann“ nicht entsprechen, fallen der Gewalt in der Schule zum Opfer. Sie können sich nicht ans Schulpersonal wenden, weil sie Angst haben, von der Schule zu fliegen oder dass ihre Eltern über ihre sexuelle Neigung informiert werden. Ähnliches ist an den Mädchenschulen zu beobachten. Es gab Fälle von Erpressung. Zum Beispiel stand eine lesbische Schülerin unter enormem Druck ihrer Mitschülerinnen. Sie musste sie bestechen, für sie Sachen kaufen, damit sie der Schuldirektorin nicht erzählten, dass sie homosexuell sei. Von den Jungenschulen hören wir oft sogar von verbaler und physischer Gewaltausübung durch Lehrer, sogar von Vergewaltigungen. Das Schulpersonal und das Bildungssystem gehören zu den staatlichen Brennpunkten von Gewalt und Schikane gegen LGBTQ.
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