„Besonders stark an den Rand gedrängt“: LGBTQ im Iran

Welche LGBTQ-Gruppe wird am stärksten diskriminiert? Die Transgender sagen, dass sie am meisten zu leiden haben, weil sie aufgrund ihres Äußeren stärker auffallen.

Das ist richtig. Dies betrifft vor allem Transfrauen. Die Gesellschaft beachtet sie besonders, weil sie denkt, wenn ein Mann zur Frau wird, sei diese minderwertig und man habe das Recht, sie zu beleidigen, zu vergewaltigen und ihr gegenüber gewalttätig zu werden. Aber die meisten Personen, die an dieser Befragung teilnahmen, haben sich nicht geoutet. Sie sind nur aufgrund ihres Äußeren, ihres Verhaltens und ihrer Aussagen, die sie hier und dort getätigt haben, unter Druck gesetzt worden. Die iranische Gesellschaft rühmt sich sehr für ihre Freundlichkeit und Nächstenliebe, obgleich sie sich gegenüber jeglicher Andersartigkeit sehr aggressiv verhält. Wenn du ein Junge bist, der sich nicht wie andere Jungen verhalten möchte, oder ein Mädchen bist, das nicht wie die anderen sein möchte, eine Anziehung zum anderen Geschlecht spürst, einen anderen Dialekt sprichst, einer anderen Religion angehörst und anderes, geht die Gesellschaft nicht tolerant mit dir um. Es ist besonders wichtig, dass in diesem Bereich solidarische und aufklärerische Arbeit geleistet wird.

In einer Gesellschaft, in der Sex an sich schon geheim und ein Tabu ist und das Sprechen sogar über die Standards und anerkannten Normen nicht erlaubt ist, wie kann man da die LGBTQ- und Minderheiten-Thematik öffentlich besprechen?

Sie haben vollkommen recht, und wir sehen die Zusammenhänge dieser Phänomene. Grundsätzlich versteht diese Gesellschaft unter Sex Fortpflanzung und die Erniedrigung von Frauen als passive Wesen. Der Mann wird als aktives Wesen wahrgenommen. Man muss sich all dem widmen. Die iranische Gesellschaft hat mit diesen Diskussionen spät angefangen und möchte sie auch lieber weiter verschieben. Aber wir befinden uns im Jahre 2020. Laut der Weltgesundheitsorganisation gehören acht bis 12 Prozent der Weltbevölkerung sexuellen Minderheiten an. Je mehr über diese Thematik gesprochen wird, umso mehr wird es Outings geben. Dies würde die Zahl noch erhöhen. In Deutschland wird sie beispielsweise auf zwölf Prozent geschätzt. Wenn wir annehmen, dass zwischen acht bis zehn Millionen Menschen im Iran homosexuell oder transsexuell sind, übertreiben wir nicht. Für mich als homosexuelle Frau ist es wichtig, dass ich meine sexuelle Ausrichtung offen zeige.

Mitglieder von 6Rang auf der Berliner  Pride-Parade 2019
Mitglieder von 6Rang auf der Berliner Pride-Parade 2019

Unsere Bedürfnisse gehen alle etwas an. Eine Frau, die unter ihrer fehlenden Freiheit leidet, ist mit uns solidarisch, weil sie weder guten Sex noch eine freie Beziehung und Entscheidung über ihren Lebenspartner haben wird. Ein großer Teil der jungen LGBTQ zwischen 14 und 20 Jahren geht gerade zugrunde. Sobald diese Kinder ihrer sexuellen Ausrichtung oder sexuellen Identität gewahr werden, erkennen sie, dass sie von der Gesellschaft nicht toleriert und akzeptiert werden. Viele von ihnen werden von ihren Eltern zu Psychologen geschickt. Man verschreibt ihnen Antidepressiva, die sehr starke Nebenwirkungen haben. Deutsche Ärzte und Pharmazeuten, die diese Medikamente gesehen haben, konnten nicht glauben, dass sie ihnen zur Unterdrückung ihrer sexuellen Orientierung verschrieben wurde. Diese Kinder schildern, dass sie tage- und wochenlang unter Schläfrigkeit gelitten haben. Ich kenne Personen, die unter den zehn Besten bei der landesweiten Aufnahmeprüfung der Universitäten waren. Aber durch diese Medikation, den gesellschaftlichen Druck und Selbsttötungsversuche haben sie ihr Gedächtnis verloren. Wir können gegenüber diesen Schicksalen nicht gleichgültig sein. Die Gesellschaft und die Familie muss zu sich kommen.

Interagiert 6Rang mit Verbänden und Institutionen, die mit diesem Problem verbunden sind? Tauschen Sie sich beispielsweise mit Arztpraxen aus, die Geschlechtsumwandlungen durchführen, um zu beraten, zu informieren oder umsetzbare Lösungen zu finden?

Wir haben entsprechend der internationalen Richtlinien eine Guideline über die Beratung und psychologische Betreuung der LGBTQ-Ratsuchenden auf Farsi erstellt und veröffentlicht. Diese Verhaltensrichtlinie haben wir jedem, der nach unseren Kenntnissen in diesem Bereich tätig ist, von Psycholog*innen bis Aktivist*innen, zukommen lassen. Wir haben das Verhalten und den Umgang von Psycholog*innen in Bezug auf Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung oder Identität hinterfragt oder kritisiert. Wir haben diesbezüglich das Verhalten von mehr als 300 Psycholog*innen untersucht, unser Bemühen war die Änderung ihrer Denkweise. Über diese Thematik haben wir mit einigen bekannten Personen Diskussionen durchgeführt. Die Komplexität ist uns klar, und wir wissen, dass noch viel zu tun ist. Vor den Schritten, die wir getätigt haben, hatte weder jemand eine Idee noch etwas unternommen. Wir hoffen, dass Psycholog*innen, die diese Guideline lesen, den Inhalt beherzigen und es dadurch zu einer Veränderung ihrer Arbeit kommt. Wenn Sie sich Webseiten von einigen Psycholog*innen anschauen, sehen Sie, dass einige ihre Arbeitsweise geändert haben und sehr klar über diese Thematik sprechen. Die Situation bewegt sich in Richtung einer Verbesserung.

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