„Es ist nicht die Zeit für Kino“
Der im Iran lebende Filmemacher Ali Asgari und der nach Kanada emigrierte iranische Regisseur Alireza Khatami feierten mit ihrem gemeinsamen Film „Irdische Verse“ 2023 auf den Filmfestspielen in Cannes Premiere. Nun ist dieser Film auch in den deutschen Kinos zu sehen. Yasmin Khalifa hat ihn gesehen.
In elf Episoden lernen wir Bürokratie und Machtausübung im Alltagsleben der Iraner:innen kennen. Ausgangspunkt für diesen Film war eine Erfahrung Ali Asgaris: Er hatte bei der iranischen Zensurbehörde ein Drehbuch eingereicht. Der zuständige Beamte hatte so viele Szenen zu beanstanden, dass am Ende kaum noch etwas von dem Drehbuch übrig war.
Der Dialog dazu im „Ministerium für Kultur und Islamische Führung“ – so dermaßen hirnrissig bis komisch – inspirierte die beiden Filmemacher dazu, selbst erlebte, gehörte oder gelesene Alltagserlebnisse mit verschiedensten Institutionen im Iran zu einem Drehbuch zu verarbeiten.
Zeugnis ablegen
Herausgekommen ist ein Vignettenfilm, gedreht mit einer Kamera, die sich nie bewegt. Wir sehen ausschließlich die Protagonist:innen. Die Antagonist:innen sind irgendwo links oder rechts der Kamera zu verorten, man hört nur ihre Stimmen. So konzentrieren sich die einzelnen Szenen, benannt nach ihren Protagonist:innen, auf die Individuen vor der Kamera. Alle sind auf unterschiedliche Weise einer Person in einer Machtposition ausgeliefert.
Auf dem Standesamt etwa erklärt ein frischgebackener Vater, wieso er seinen Sohn David nennen will. Im Zimmer der Schuldirektorin muss sich eine Schülerin verantworten, weil ein junger Mann sie mit dem Motorrad zur Schule gebracht hat. Ein weiterer Protagonist muss einem Beamten seine Tattoos zeigen, damit er eine Taxifahrerlaubnis bekommt. Eine junge Frau entflieht einem eindeutig sexuell aufgeladenen Bewerbungsgespräch. Ein Mann, der sich für einen Baustellenjob bewirbt, muss pantomimisch vorführen, wie er die rituelle Waschung vor dem Gebet vornimmt.
Die sehr formelle Ästhetik von „Irdische Verse“ verzichtet auf vieles, was einen Film ausmacht. „Es ist nicht die Zeit für Kino, es ist die Zeit, Zeugnis abzulegen“, erklärt Alireza Khatami den Grundgedanken des Films. Durch dieses starre Konzept wirkt der Film fast schon wie ein Dokumentarfilm, der untersucht, wie Menschen reagieren, wenn sie bürokratischer Willkür ausliefert sind. Im formal stringenten Ablauf der einzelnen Episoden – Geburt, Einschulung, Schule, Beruf etc. – enthüllt der Film, wie nah beieinander im Iran Machtmissbrauch und Bigotterie liegen.
Verhandeln und Widerstand leisten
Das Thema Mensch – Bürokratie – Macht ist universell, das zeigt beispielsweise die hiesige Literaturgeschichte von Kafkas „Das Schloss“ bis zu den Akten des „Hauptmanns von Köpenick“. Das ist der Moment, in dem uns Ali Asgari und Alireza Khatami mit den „Irdischen Versen“ abfangen, um über den eigenen Umgang mit vergleichbaren Situationen reflektieren zu können: Entziehen wir uns der Situation, können wir ihr trotzen, lassen wir uns einen Trick einfallen?
Ali Asgari und Alireza Khatami haben sich trotzig etwas einfallen lassen, um diesen Film zu realisieren: Sie haben ihn aus eigener Tasche bezahlt und in sieben Tagen ohne Genehmigung gedreht. Das machen viele Filmemacher:innen im Iran, die einfach keine Geduld mehr haben, sich den entwürdigenden Gängeleien des „Ministeriums für Kultur und Islamische Führung“ nicht aussetzen wollen oder wegen ihrer sozialkritischen Haltung nicht arbeiten dürfen – prominentes Beispiel: Jafar Panahis Film „Taxi“, der unter vergleichbaren Bedingungen entstanden war.
Ali Asgari wurde nach seiner Rückkehr aus Cannes der Pass entzogen und er wurde mehrfach verhört. Er nimmt diese Repressionen als seine Form des Widerstandes gegen den iranischen Staatsapparat in Kauf: „Wir leben in einer Zeit, in der wir Widerstand leisten müssen, auch beim Filmemachen. Das ist für mich eine Form des Widerstands“, betonte er in einem Interview mit der ARD-Kultursendung „Titel Thesen Temperamente“. Im Iran leisten nicht nur namhafte Regisseur:innen diesen Widerstand, sondern alle, die für Menschenrechte eintreten.♦
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